Tanja: «Big Brother» ist eine Fernsehsendung, in welcher sich mehrere Leute in einem Haus einsperren lassen und sich dann über mehrere Wochen hinweg rund um die Uhr von Fernsehkameras filmen lassen. Und das in jedem Raum. Was meinst du, was würde wohl George Orwell dazu sagen? Zumal die Sendung ihren Namen seinem Buch «1984» verdankt…
Jürg: Orwell würde sagen: Wenn die Menschen so etwas scheinbar freiwillig tun, sind sie entweder einer Gehirnwäsche unterzogen worden oder dann so mediengeil, dass man sie bedauern muss. Sie werden vom Sender schamlos ausgenutzt. Und von den Glotzenden noch dazu. Orwell müsste heute nicht so weit in die Zukunft blicken, wie er es 1948 getan hat, denn noch nie in der Geschichte gab es so viele technische Möglichkeiten, Menschen zu beobachten und zu überwachen, wie heute. Diese Zeilen, die ich an dich maile, werden auch in Grosscomputern von Providern gespeichert. Wir nehmen das in Kauf, weil mailen schneller geht, als einen Brief zu senden. Sind wir zu naiv? Wo bleibt der Persönlichkeitsschutz?
Tanja: Ich denke nicht, dass wir naiv sind. Wie du sagst: wir nehmen das in Kauf. Meiner Meinung nach ist jeder selber schuld, wenn er Daten von sich ins Internet stellt. Heutzutage weiss man doch, dass diese Daten – Bilder, Dokumente, Zitate und so weiter – für immer im Netz gespeichert bleiben, auch wenn man selber sie löscht. Diese Gefahr ist in den Social Medias besonders gross. Darum gebe ich Acht, was ich auf Facebook von mir preisgebe. Etwas anderes ist es natürlich, wenn diese Datenspeicherung oder gar der Datenklau ohne unser Wissen und gar durch den Staat geschieht. Ich möchte mir gar nicht vorstellen, wie das zur Zeit des Kalten Krieges war, als jeder beim kleinsten Anlass der Spionage verdächtigt werden konnte. Kannst du dich noch erinnern, wie das damals war? War das 1984 wirklich so krass, wie Orwell es prophezeit hatte?
Jürg: Orwell schrieb seine Bücher zur Warnung vor einem totalitären Kommunismus. Diese Angst teilte offenbar auch die Bundesanwaltschaft, denn sie legte zusammen mit der Polizei von 1900 bis 1990 900‘000 Fichen (Registerkarten) an. Überwacht wurden alle, die entweder linke Politik betrieben oder einmal in ein kommunistisches Land reisten, sowie kritische SchriftstellerInnen, KünstlerInnen, sozial Engagierte, GewerkschafterInnen und AusländerInnen. Ihre Telefone wurden abgehört, Vorgesetzte und Nachbarn ausgefragt.
Die als gefährlich eingestuften Personen wurden auch beschattet. Als die Sache publik wurde und 1989 eine Parlamentarische Untersuchungskommission (PUK) ihren Bericht veröffentlichte, kämpften viele, die das als ungerecht empfanden, dafür, dass das Justiz- und Polizeidepartement seine Praxis ändern musste und dass alle Betroffenen ihre Fiche einsehen konnten. Kollegen zeigten mir ihre Fiche. Vieles war schwarz überdruckt – also gab es keine volle Einsicht. Aber schon das Lesbare liess einem die Haare zu Berge stehen. Harmlose Aussagen oder Tätigkeiten wie «trinkt täglich ein Bier» wurden als verdächtig hingestellt. Viele «Verdächtige» wurden indirekt bestraft, indem sie aus fadenscheinigen Gründen eine Arbeitsstelle nicht erhielten oder nie auf einen einflussreichen Posten befördert wurden. Das Recht wurde also viele Jahre mit Füssen getreten – scheinbar aus Angst vor den Kommunisten. Oft ging es aber lediglich darum, kritisch Denkende zu denunzieren. «Geh doch nach Russland, wenn du nicht zufrieden bist!» war eine häufige Antwort auf berechtigte Fragen. Die Fichen von Fahrenden wurden bis heute nicht offen gelegt. Warum? Obschon es heute einen Datenschutzbeauftragten gibt, wissen wir nicht wirklich, was mit den vielen Daten, die Behörden, Militär, Polizei, Spitäler, Krankenkassen, Versicherungen, Banken über uns sammeln, geschieht. Ein neues Gesetz soll nun die Situation etwas verbessern. Die deutsche Netz-Künstlerin Rena Tangens setzt sich auf der Webseite digitalcourage.de für Zivilcourage im digitalen Zeitalter ein. Und sie verleiht jedes Jahr «Big Brother Awards», Preise für gröbste Verletzungen der Privatsphäre im Netz. Auf ihrer Webseite erhält man auch Tipps für die «Selbstverteidigung» am Computer und Smartphone. Gefällt dir diese Idee?
Tanja: Jürg, ich bin ehrlich entsetzt über die Fichenaffäre. Ich höre jetzt zum ersten Mal davon und frage mich, weshalb diesem Geschehen heute so wenig Beachtung geschenkt wird. Wofür haben wir denn Geschichtsunterricht? Das muss ein schreckliches Gefühl sein, vom eigenen Staat hintergangen zu werden. In einem totalitären Staat kann man sich das ja vorstellen, aber in einer Schweiz, welche sich mit ihren demokratischen Werten brüstet… Über digitalcourage.de habe ich auch schon gelesen. Toll, dass sich jemand der Gefahr im Netz stellt und dazu noch die dreistesten Datendiebe öffentlich an den Pranger stellt. Ob die Gruppe tatsächlich eine Chance gegen Google und Co. hat, wage ich allerdings zu bezweifeln. Der Handel mit Daten ist ja neben der Spionagegeschichte auch ein sehr lukratives Geschäft. Anhand unseres Surfverhaltens können Werbefachleute unsere Vorlieben herausfiltern und gezielt Anzeigen präsentieren. Durch genau diese Anzeigen finanzieren sich «kostenlose» Plattformen wie Facebook und YouTube. Übrigens, hast du gewusst, dass jetzt sogar einige Barbiepuppen und Teddybären Aufnahmegeräte enthalten, welche die Kinder beim Spielen registrieren und danach «gehackt» und abgehört werden können? Was meinst du, wie weit geht das noch?
«Wir sind nicht die Kunden der Konzerne, sondern ihre Produkte.»
– Jaron Lanier, Internetforscher –
Jürg: Leider geht vieles jetzt schon zu weit. Wir geben mit Handys, mit Kameras und Geräten mit GPS, Kunden-, Kredit- und SBB-Kärtchen sehr viel preis und werden von Überwachungskameras gefilmt. Am Schlimmsten wäre für mich ein Vertrauensverlust, weil niemand mehr weiss, wer was über ihn weiss. Bei Orwell überwachte der Staat alles. Heute sind die Internetkonzerne auf dem Weg dazu. «Wir sind nicht die Kunden der Konzerne, sondern ihre Produkte», sagt der berühmte Internetforscher Jaron Lanier in seinem Buch «Wem gehört die Zukunft?». Ich finde es nötig, dass wir uns über «Big Data» informieren, um dann bewusster und kritischer damit umgehen zu können. Es wäre schlimm, wenn wir zu «gläsernen Menschen» würden.
Tanja: Ich verstehe und teile deine Befürchtungen. Allerdings bin ich optimistischer und traue unserer Gesellschaft zu, dass sie es nicht dazu kommen lässt. Wie unsere Welt im Jahre 2084 aussehen wird, werden wir wohl nicht mehr erleben. Wir können aber unseren Beitrag leisten, indem wir aufpassen, was wir wo von uns preisgeben und «uploaden».
Jürg: Ich bin auch eher optimistisch, bemühe mich aber, vorausschauend zu sein – ähnlich wie ein Autofahrer, der erkennt, wo Gefahren lauern, und Bremsbereitschaft erstellt. Die gute Ausbildung und der scharfe Verstand deiner Generation werden hoffentlich ein Gegengewicht zu den Wirtschaftsmächten bilden.
Zum Buch von Geore Orwell
1984 von George Orwell erschien 1948. Es beschreibt das Leben in einem totalitären Staat. Protagonist Winston Smith ist ein einfacher Staatsangestellter, ohne Privatsphäre. In seiner Wohnung und der ganzen Stadt sind Bildschirme aufgestellt, durch welche «Big Brother» («Grosser Bruder» – gemeint ist der Staat) seine Untertanen überwacht. Doch Winston tritt gegen Big Brother an, und begibt sich auf eine gefährliche Mission.
George Orwell: 1984, Ullstein, 1976. Jaron Lanier: Wem gehört die Zukunft? Hoffmann und Campe, 2014.