Das Thema des Vortrages «Weisheit – gewinnbringender Austausch zwischen Generationen» lockt einige, vorwiegend ältere Menschen in den Gewölbekeller des Tertianums. Sofort fällt einem die auf eine Leinwand projizierte «Lebenstreppe» ins Auge.
Dabei handelt es sich um eine Lithographie aus dem späten 19. Jahrhundert. Der junge Referent, Simon Waber, lic.phil., Fachpsychologie für Psychotherapie FSP, Jahrgang 1981, lässt die Zuhörer nicht lange bei der Kunst verweilen und fordert das Publikum gleich zu Beginn seines Vortrages mit einer Frage heraus:
Wer ist für mich weise und welche Charakteristika weist diese Person auf?
Miriam: «Das ist eine schwierige Frage. Ich denke, eine weise Person ist jemand, der verschiedene Handlungsmöglichkeiten und Bewältigungsstrategien kennt und weiß, welche Strategie in welcher Situation zu wählen ist. Für mich ist dieses Wissen in gewissem Maß an Lebenserfahrung, aber damit nicht automatisch an das Alter gekoppelt. Was ist denn eine weise Person für dich?»
Gaby: «Eine weise Person ist für mich ein Mensch, der in sich zu ruhen weiss, seine Gefühle und Impulse kennt und einzuordnen vermag. Ein solcher Mensch ist nicht vereinnahmend, er lässt seinem Gegenüber Raum für seine Ansichten und Anliegen. Er scheut sich jedoch nicht, mich herauszufordern, mich mitzunehmen in eine Diskussion, die mir möglicherweise neue Einsichten beschert. Ein solcher Mensch fordert und fördert mich.»
Bei Umfragen, in welchen Menschen mit dem Prädikat «Weisheit» in Verbindung gebracht werden, fallen Namen wie Dalai Lama, Ghandi, Jesus, Nelson Mandela oder Mutter Teresa. Offenbar verbindet man Weisheit eher mit dem männlichen Geschlecht sowie mit älteren Menschen und Führungspersonen. Auch die Psychologie versucht den Inhalt und den Begriff von «Weisheit» zu bestimmen, erklärt uns der Referent Simon Waber.
Der Wissenschaftler Robert J. Sternberg beispielsweise kommt in seinem «Balance-Modell» zum Schluss, dass Weisheit «durch individuelle, kreative Lösung von Problemen besticht sowie das Abwägen eigener und fremder Interessen mit einbezieht».
Andere Wissenschaftler, zum Beispiel der Berliner Michael Linden, stellten Merkmale und Fähigkeiten zusammen, die kumulativ die Weisheit ausmachen sollten:
- Perspektivewechsel
- Empathie
- Emotionswahrnehmung
- Ausgeglichenheit und Humor
- Fakten- und Problemlösungswissen
- Kontextualismus
- Werterelativismus
- Nachhaltigkeit
- Ungewissheitstoleranz
- Selbstdistanz und Anspruchsrelativierung
Miriam: Ich finde diese Aufzählung von «Weisheitsmerkmalen» toll. Wenn man diese Fähigkeiten hat, ist es wohl eher möglich «weise» zu handeln. Aber wie erlangt man diese Fähigkeiten? Geschieht das im Verlauf des Lebens automatisch? Hast du diese Fähigkeiten schon alle?
Gaby: Wo denkst du hin, Miriam – dann wäre ich ja bereits in der «Mutter Teresa»-Liga! Mitnichten fühle ich mich in den aufgezählten Merkmalen überall kompetent. Alles, was ich aufzuweisen habe, ist ein Lebensweg, der mich zwischendurch stolpern liess, mir wohlgesinnte Menschen zur Seite stellte, mir immer wieder Abzweigungen und neue Wege aufzeigte. Wenn ich ein Rating machen müsste mit der Aufzählung, käme ich zu folgendem Fazit: Am meisten herausgefordert bin ich mit den letzten vier Punkten. Und daran wird sich auch so schnell nichts ändern – ich bin bereit zum Lernen.
Alt ist nicht = weise
Etwas ernüchternd war der Hinweis von Simon Waber, dass die Wissenschaft den «Alten» nicht bestätigen kann, dass Älterwerden gleichsam mit Weiserwerden einhergeht. Dies mindestens deckte eine der wenigen Studien in diesem Bereich auf. Wichtig ist in jeder Lebensphase und in jedem Lebensalter, dass weise Menschen diese charakteristischen Fertigkeiten im wirklichen Leben anwenden können.
Miriam: Also ohne gleich schadenfreudig zu werden: dem stimme ich zu. Wie es so schön heißt: «Alter schützt vor Torheit nicht»! Wer älter ist, ist nicht automatisch weiser.
Gaby: Ich mag dir die Schadenfreude von Herzen gönnen, Miriam. Wage jedoch scheu darauf hinzuweisen, dass es (noch) wenige diesbezügliche Studien gibt. Und automatisch stellt sich Weisheit wohl in keiner Lebensphase ein, aber die Hoffnung stirbt bekanntlich zuletzt.
Weisheitstransfer zwischen den Generationen
Neben den Ausführungen zu wissenschaftlichen Ergebnissen fordert Simon Waber die ZuhörerInnen auf, Weisheit im eigenen Lebensverlauf zu entdecken. Zum Beispiel über Versäumnisse nachzudenken und – gerade auch mit jungen Menschen – über die eigenen Lebenserfahrungen zu sprechen. Wichtig ist dabei, die eigenen Erfahrungen nicht als der Weisheit letzter Schluss anzupreisen. Weiter ermutigt Simon Waber das Publikum, Fehler und Niederlagen einzugestehen und darüber zu sprechen. Erst so könne der Weisheitstransfer zwischen den Generationen stattfinden.
Miriam: Also für meinen Geschmack tönt dies etwas sehr hierarchisch. Der alte Mensch gibt seine Lebensweisheit an die unerfahrene Jugend weiter. Man kann etwas auch 40 Jahre lang kreuzfalsch machen. Damit ist man auch erfahren, aber doch nicht automatisch weise!
Gaby: Ich habe es so verstanden, dass es nicht darum gehen kann, junge Menschen mit «alter» Lebenserfahrung vollzutrichtern und anzunehmen, diese eigene Erfahrung sei nun auch für die Jungen das Gelbe vom Ei. Ich denke, es geht darum sich auszutauschen.
Entscheiden oder multioptional?
Simon Waber arbeitet in seiner psychologischen Praxis häufig mit jungen Menschen. Ihnen fällt es in unserer multioptionalen Gesellschaft immer schwerer, einen Lebensentwurf zu entwickeln. Dadurch werden Ängste geschürt, die manchmal in eine Depression münden können. Gerade im Austausch mit älteren (nicht unbedingt familiennahen) Menschen bietet sich die Chance, auf einen Lebenslauf zurückzuschauen und dabei festzustellen, dass sich dieser mitnichten immer gradlinig auf der Erfolgsschiene fortbewegt hat. Versäumnisse, Enttäuschungen, Fehler, Falscheinschätzungen einer Situation – all dies gehört dazu, dadurch kann und darf sich Weisheit entfalten. Hier betont der Referent, wie wichtig es sei, solche Gespräche «auf Augenhöhe» zu führen. Ein weiterer wichtiger Punkt sei die «Freiwilligkeit». Damit meint er, es bestehe kein Muss, meine Weisheit zu teilen. Mein Gegenüber entscheidet selber, was es anzunehmen gewillt ist. Ältere Menschen haben etwas Einzigartiges weiterzugeben: Lebenserfahrung, in verdichteter Form als Weisheit bezeichnet. Diese Sonderform von Wissen können Kinder und junge Erwachsene in keiner Schule lernen, sie ist jedoch eine wichtige Quelle für die Identitätsbildung und die Entwicklung von Lebensvisionen.
Miriam: Diese Problematik kenne ich sehr gut. Wir Jungen haben alle X-verschiedene Möglichkeiten. Aber wie trifft man die richtigen Entscheidungen im Leben? Und wie lebt man dann mit den Konsequenzen dieser Entscheidungen? Das kann man nicht im Internet nachschauen. Dazu benötigt man dann wohl sowas wie «Weisheit».
Gaby: Oder ihr nutzt die Ressourcen der «Alten» und wagt euch in einen Dialog. «Nützt’s nüt, so schad’s nüt». Oder anders rum: Mit jeder Entscheidung FÜR eine Möglichkeit schliesst du zig andere aus, gewinnst hingegen die eine dazu und darfst dich aufmachen, dort Erfahrungen zu sammeln. Learning by doing sozusagen.
Mehr zum Referenten
Simon Waber hier finden Sie seine Webseite.