Eigentlich blies ein ungemütlich eisiger Wind im Innenhof des Berner Generationenhaus. Doch die Besucher des Generationentalk, der erstmals von Miriam Lenoir (27) moderiert wurde, blieben an ihre Stühle gefesselt sitzen: Das Gespräch mit den beiden Männern im Rollstuhl war zu erfrischend und gleichzeitig eindringlich und lebensfroh. Eine Lektion Lebenskunde, die sich niemand entgehen lassen wollte.
Für Simon Hitzinger (28), alle nennen ihn «Hitzi», bestand das Leben vor dem Unfall 2011 aus Lehre, Ausgang und Freunden. Dann die Party im 2011, der Sturz vom Balkon in die Tiefe und alles wurde anders. Doch die Freude am Leben blieb ihm erhalten. Das war allerdings nicht ganz immer so, auch er musste kämpfen und eine sinnvolle Aufgabe finden. Doch heute sagt er: «Solange ich glücklich sein kann, lohnt sich das Leben noch»
Fritz Vischer (66) lebt seit 1977 im Rollstuhl. Nichts wie weg aus Basel, sagte sich der damals 22-Jährige und machte sich ohne grosse Ziele auf nach Venezuela, wo dann ein Motorradunfall sein Leben umkrempelte. Der Unfall setzte ungeahnte Energien frei und zwang ihn, einen Plan zu machen, damit er trotz allem ein gefreutes Leben führen kann. Auch er hatte Tiefs, hauptsächlich nach intensiven Betreuungsphasen, wenn wieder Zeit zum Grübeln blieb.
Was braucht es, um den «Rank zu finden»?
Ein gutes Umfeld sowie kompetentes und motivierendes Pflegepersonal sind die wichtigsten Voraussetzungen, um nach dem Unfalltag wieder Fuss zu fassen. Fritz liess sich damals seine Verletzungen erklären und vertraute der ärztlichen Aussage, dass sein Zustand immerhin stabil bleibe, sich zumindest nicht verschlechtere. Heute merke er die zunehmenden Jahre, wie übrigens alle seiner Altersklasse.
Für Hitzi sind Humor und Lachen die besten Tools, um Dinge zu verarbeiten. Zudem setze sein Satz: «Mit 50 sitze ich vielleicht nicht mehr im Rollstuhl» bei ihm riesige Energien frei. Er hat eine andere Verletzungsart als Fritz. Er spürt heute wieder Temperaturunterschiede in seinen gelähmten Beinen und baut somit auf technologische Entwicklungen. «Habe aber nicht im Sinn, ein Roboter zu werden», lacht er und rückt aufmüpfig seine rosa Dächlikappe zurecht.
BEhindert, VERhindert – die Sache mit der Sprache
Behindert geht gar nicht, meint Hitzi. «Bisch behinderet?» ist für ihn und seinen Sprachgebrauch zu sehr mit Abwertung und Verachtung verbunden. Er hält sich eher an verhindert. Tatsächlich sei er ja jetzt verhindert zu gehen… vielleicht setzt sich das ja durch, feixt er.
Fritz hält nicht viel von solchen Beschönigungen, sie führen ins Absurde. Früher sagte man ungeniert «Krüppel» und meinte es auch so. Man müsse der Realität ins Gesicht sehen. Anstelle von Behinderten-WC verwende man aber besser Rollstuhl-WC, das entspreche ja auch dem Symbolbild. «Wir sind ja Menschen, die rollen!»
Das Miteinander
«Behinderte Menschen behindern ihre Mitmenschen im Alltag», so Fritz. Er brauche zum Beispiel einen Begleiter, damit er sich im ÖV einfacher bewegen kann. All die organisatorischen und geografischen Hürden seien aufwändig und anstrengend. Etwas Trost: Am Ende ärgern sich alle über das Gleiche: Gehen Rollstuhlfahrer und Begleiter, trotz Voranmeldung einfach vergessen, dann ist das eben für alle mühsam. Kommt das immer wieder vor oder kommt die Hilfe viel zu spät, platzt schon mal der Kragen. Dabei wollen sowohl Hitzi wie Fritz stets freundlich auf Hilfsangebote reagieren, vorausgesetzt sie sind respektvoll und auf Augenhöhe vorgebracht.
Dies gilt auch für Beziehungen. «Ja, auch verhinderte Menschen haben Sex», das ist Hitzis Botschaft und darüber spricht er gerne und unverblümt, damit sich alle auch was darunter vorstellen können. Fritz meint trocken: «Die ganz grossen Hengste sind die Paraplegiker nicht.»
Arbeiten, Schaffen, Zurückgeben
Hitzi versuchte nach der Reha die Rückkehr in einen Job, musste die Arbeit aber wegen Schmerzen aufgeben und bezieht eine IV-Rente. Heute arbeitet er freiberuflich als Fotograf und findet darin Erfüllung. Doch wollte er zusätzlich etwas tun, damit es Menschen und Umwelt besser geht. So engagiert sich bei keiyo, einer Galerie für Fotokunst, deren Verkaufserlös sozialen Zwecken zukommt.
Fritz arbeitete von 1983 – 2006 bei einer Bank als Redaktor der hauseigenen Publikationen. Er liess sich frühpensionieren und lebt heute als Autor und Texter und schreibt über sein Leben als Querschnittsgelähmter «Ansonsten munter» und ist überall dabei, wo er zur Aufklärung beitragen kann. Die Frage, ob sie als Rentenbezüger angefeindet werden, verneinten beide klar. Argwohn sei ausserdem generell unangebracht. «Solange jeder etwas zurückgeben kann, ist es o.k». Zudem spreche der Rollstuhl für sie. Psychische Krankheiten hätten es da viel schwerer. Doch, die Gesellschaft muss sich ein Rentensystem leisten können. Schwierige Zeiten spüren Minderheiten als Erste.
Wir sollten nicht in zwei Welten leben
Fritz Vischer (66)
Bhaltis aus diesem Generationentalk
Für Fritz und Hitzi und alle ZuhörerInnen bleibt das Wesentliche: «Unkompliziert und miteinander Leben». Und mit Blick auf die Olympiade und die kurze Zeit später stattfindenden Paralympics doppelt Fritz nach: «Wir sollten nicht in zwei Welten leben».