Im Herbst 1989 herrschte eine besonders grosse Nachfrage nach Altersheimplätzen. Die Warteliste des Alterheims Glockenthal in Steffisburg war lang. Viele betagte Menschen hatten Angst vor dem Winter. Therese Kohli war in verschiedenen Heimen des Kantons Bern als Prüfungsexpertin in der Betagten-Betreuer-Ausbildung im Einsatz. Eines Tages hatte sie zwei Prüfungen abzunehmen; die eine fand direkt im Zentrum des Ortes in einer Dreizimmerwohnung statt. Zwei schwer pflegebedürftige Menschen wurden rund um die Uhr intensiv betreut. Bei der anderen handelte es sich um ein Altersheim auf dem Land ohne Pflegeabteilung, in dem auch keine Nachtwache organisiert war. Das brachte sie auf die Idee, dass es gerade umgekehrt sein sollte: Für Menschen, die viel Pflege benötigen, ist das Heim der richtige Ort. Für Betagte, die noch keinen Vollservice eines Heims benötigen, könnte man Wohnungen in belebter Umgebung mit verschiedenen Kontaktmöglichkeiten mieten. Markus Kohli, Thereses Ehemann, fand die Idee dieser neuen Betreuungsform ebenfalls bestechend. So könnte auch dem Platzmangel begegnet werden.
Einige Tage später, abends beim Gassi gehen mit dem Hund, stolperte er in der Finsternis beinahe über einen ausrangierten Radiator, der halb aufs Trottoir hinausragte. Er entdeckte ein ganzes Depot von Gegenständen, die auf den Abtransport warteten. Ein Wohnblock, der saniert wurde, ganz in der Nähe des Altersheims: Das war vielleicht DIE Gelegenheit!
Beim Bauherrn der Liegenschaft Thunstrasse 54 stiess Markus Kohli auf offene Ohren. Der Renovationsstand war so, dass noch gewisse Änderungen beim Sanitären möglich waren. Sofort erarbeitete das Ehepaar Kohli ein Konzept. Eine Etage mit drei Wohnungen mit insgesamt acht Zimmern, zwei Küchen und vier Badezimmern sollte das Zuhause von sieben Betagten werden, wobei der grösste Raum als gemeinsames Wohn- und Esszimmer vorgesehen war. Nach dem Motto «so wenig wie möglich, so viel wie nötig» war geplant, eine ausgebildete Betagtenbetreuerin im Teilpensum anzustellen, die einem Team von Betreuerinnen vorsteht.
Die Verantwortlichen des Spitals Thun, dem das Altersheim angegliedert war, erklärten sich mit dem Konzept einverstanden und mieteten das Objekt.
Das erste betreute Wohnen
Bereits am 1. November 1989 startete das Projekt Wohngruppe Thunstrasse 54, das erste «Betreute Wohnen» im Kanton Bern. Eine im Heim ausgebildete Betagtenbetreuerin übernahm die Leitung eines Teams von fünf Frauen, welche im Teilpensum arbeiteten. Dieser Beruf war ideal für Hausfrauen. Die Schichten dauerten von circa 7.30 Uhr bis 11 Uhr und von 15 Uhr bis 19 Uhr. Die zwei Männer und fünf Frauen, die einziehen durften, schätzten sich sehr glücklich. Jede Person hatte ein eigenes Zimmer mit Telefon- und Fernsehanschluss. Das Heim war die Basis und sorgte für die Verpflegung und die Alltagsbegleitung, also für eine Tagesstruktur und die Gemeinschaftspflege. Die Betreuerinnen bereiteten das Frühstück vor Ort vor. Um 11 Uhr machte sich die Gruppe auf den Weg ins Heim zum gemeinsamen Mittagessen. Durch den täglichen Kontakt konnten eine gute Betreuung gewährleistet und soziale Kontakte geknüpft werden. Das Nachtessen wurde von einem der Bewohner per Anhänger im Heim abgeholt.
Grosse Nachfrage
Da die Nachfrage für die WG-Plätze weiterhin gross blieb, wagten sich Kohlis im Jahr 2000 an die Realisierung einer zweiten externen Wohngruppe am Gurnigelweg 12. Acht Leute bezogen zwei Wohnungen. Später kamen andere Wohnungen dazu. In der Überbauung lebte eine bunt gemischte Gruppe von Menschen jeden Alters. Die WG- BewohnerInnen wurden im Quartier herzlich aufgenommen. Rasch ergaben sich Freundschaften und eine gelebte Nachbarschaftshilfe konnte entstehen. Alle Mahlzeiten wurden vom Heim an die Wohngruppen ausgeliefert. Die Beziehung zum Heim wurde gepflegt durch gemeinsame Ausflüge, Andachten und das Turnen. Nachts war jemand auf Pikett, aber Nachtdienst war nicht angesagt. Dies war ein Leben wie in einer Grossfamilie, da es durchaus auch mal Meinungsverschiedenheiten gab.
Therese Kohli schreibt in ihrem Buch «Das Glockenthal»: «Das gute Zusammenleben in der Wohngruppe steht und fällt mit der Zusammensetzung der BewohnerInnen. Das Heim im Rücken zu wissen war wichtig, damit bei Unstimmigkeiten und in Notfällen schnell gehandelt und Lösungen gefunden werden konnten. Eine Verlegung oder Kündigung musste jederzeit möglich sein.»
Im Jahr 2012 lebten in neun Wohnungen 30 SeniorInnen, verteilt auf drei Wohnhäuser. Als Therese und Markus Kohli in Pension gingen, waren sie überzeugt: «Diese kostengünstige Altersbetreuung wird sich nachhaltig bewähren.»
«Das gute Zusammenleben in der Wohngruppe steht und fällt mit der Zusammensetzung der BewohnerInnen.»
Therese Kohli
Ramona Baumann, die Nachfolgerin von Kohlis, war fasziniert von der Möglichkeit des Betreuten Wohnens. Leider veränderte sich ab dem Jahr 2013 die Finanzierbarkeit dieser Wohnformen schweizweit «dank» eines neuen Gesetzes zur Finanzierung des «Wohnens mit Dienstleistungen». Der Anspruch auf Ergänzungsleistungen für BewohnerInnen von WGs fiel weg. So konnten sich nur mehr Wohlhabende diese Wohnform leisten. Mit Ach und Krach, das heisst nach unzähligen Sitzungen an «Runden Tischen» mit der Gemeinde Steffisburg, der Stadt Thun, der Pro Senectute und dem Kanton erhielt das Glockenthal eine Kantonale Bewilligung zum Führen eines Wohnheims. Im Jahr 2019 wurden alle Wohngruppen aufgelöst und die Bewohnenden zogen in den neu gebauten «Schlossblick» an der Burgstrasse 2 in Thun. Dort erhalten sie nun auch wieder Ergänzungsleistungen, je nach Bedarf.
Es ist begrüssenswert, dass diese Möglichkeit zwischen «Zuhause» und dem Pflegeheim besteht. Das Konzept bietet weiterhin eine Tagesstruktur und eine Gemeinschaft, garantiert aber auch Individualität sowie Sicherheit und beugt der drohenden Mangelernährung und Einsamkeit vor.
Im Rahmen von bewilligten Heimplätzen konnten im Herbst 2021 weitere Plätze für das Betreute Wohnen angeboten werden. Im renovierten Von Jud-Haus, direkt neben dem Alterswohnen Glockenthal, befinden sich auf drei Stockwerken 12 Zimmer mit eigenen Nasszellen, eine Küche, eine grosse Wohnstube und verschiedene gemütliche Ecken und Nischen. Alle drei Mahlzeiten werden im ehemaligen Esszimmer des Heims, liebevoll «Glöggu-Stube» genannt, eingenommen.
Besuch im Schlossblick
Ramona Baumann, die Betriebsleiterin des Glockenthals, führt durch den Schlossblick, ein Haus, in dem Menschen jeden Alters ein – und ausgehen. Das Erdgeschoss und der Innenhof wird belebt durch eine KiTa und junge Erwachsene in Ausbildung zu Pflegefachkräften. Im obersten Stockwerk arbeiten die IT-Mitarbeitenden des Spitals. Auch zwischen den ältesten und jüngsten Bewohnenden beträgt der Altersunterschied um die 30 Jahre. Organisierte Kontakte, zum Beispiel zwischen der KiTa und dem Schlossblick, haben sich leider bisher nicht ergeben, nicht zuletzt wegen Corona. Spontane Begegnungen beleben aber das Zusammenleben an der Burgstrasse.
«Ich hoffe, dass durch die Förderung neuer Wohnformen und Caring Communities ein Umdenken in der Politik erfolgt.»
Ramona Baumann
Die Leiterin des Betreuten Wohnens, Dana Kropf, die Autorin dieses Beitrags, Ramona Baumann, und vier BewohnerInnen trafen sich zu einem Gespräch in einem der grosszügigen, schön möblierten WG-Wohnzimmer. Dabei stellte sich heraus, dass das Interesse an Kontakten gross ist. Wer weiss, was sich daraus ergibt? Auf die Frage zur Finanzierbarkeit findet Ramona Baumann, das sei ein leidiges Thema. Sie hofft, dass durch die Förderung neuer Wohnformen und Caring Communities ein Umdenken in der Politik erfolgt. Der Bedarf an Betreutem Wohnen ist aus ihrer Sicht gegeben.
Kürzlich wurden dazu zwei Kurzfilme bei der Age-Stiftung aufgeschaltet.
Eine Betreuerin erzählt
Silvia Arter genoss ihre Ausbildung im Altersheim Glockenthal und hatte bereits einige Jahre Berufserfahrung gesammelt, als sie die Leitung der ersten externen Wohngruppe an der Thunstrasse übernahm. Sie erinnert sich gern an diese Zeit. Die Einrichtung und die Abläufe waren einfach. Die BewohnerInnen mussten noch Treppen steigen. In der «Wohnstube» stand ein grosser Tisch, wo sich alle, auch die Betreuerinnen, zum Essen trafen und gerne noch ein Weilchen sitzen blieben, um zusammen zu plaudern. Für das Administrative stand ein kleiner Sekretär zur Verfügung. Hier wurde alles Wichtige in einem Heft festgehalten und es wurden die Medikamente für eine Woche bereitgestellt.
«Ich habe stets ein offenes Ohr für die BewohnrInnen. Oft ergeben sich beim Reinigen der Wohnungen interessante Gespräche.»
Silvia Arter
Als es gut 10 Jahre später darum ging, die zweite WG am Gurnigelweg aufzubauen, brauchte es jemanden mit Erfahrung. Silvia Arter fiel der Wechsel nicht leicht, aber das Ganze liess sich auch dort gut an. Die Betagten waren ruhige Mitbewohnende, gingen früh zu Bett und benötigten keine Veloparkplätze. Wenn ein Tag der Offenen Tür oder ein Gartenfest organisiert wurde, ergaben sich mit den QuartierbewohnerInnen schöne Kontakte. Dass alles so gut funktionierte, sei in erster Linie dem Ehepaar Kohli zu verdanken, meint Silvia, denn sie seien bei Problemen aller Art stets zur Verfügung gestanden.
Der Umzug nach Thun fiel den meisten BewohnerInnen nicht leicht, obwohl man versuchte, ihnen die Sache schmackhaft zu machen: Grössere Zimmer mit eigenem Bad und die Nähe zur Stadt. Sie liebten das familiäre Zusammenleben und die Spaziergänge an der Zulg.
Beim Wechsel in den Schlossblick musste sich Silvia Arter entscheiden, ob sie in der Küche, in der Hauswirtschaft oder in der Pflege arbeitet. Sie sagt: «Ich habe, auch wenn ich in der Hauswirtschaft tätig bin, stets ein offenes Ohr für die Bewohnenden. Oft ergeben sich beim Reinigen der Wohnungen interessante Gespräche.» Und die SeniorInnen wissen das zu schätzen.
Silvia meint: «Es ist nicht mehr ganz so wie früher. Das Familiäre ist durch die Grösse etwas verloren gegangen. Die Situationen der Bewohnenden sind komplexer geworden, die Ansprüche gestiegen und die Anforderungen der Dokumentation seitens der Krankenkassen und so weiter sind deutlich gestiegen. Allerdings windet sie ihrer Vorgesetzten Ramona Baumann ein Kränzchen. Diese setze sich stark ein für das Wohlergehen der BewohnerInnen und kenne alle persönlich.
Und das sei wahrhaftig keine Selbstverständlichkeit.