Mürrischer Start in den Tag

Mürrischer Start in den Tag

Was verbindet einen mürrischen Pendler mit einer souveränen Zugbegleiterin? Der Start in den Pendlermorgen. Neues aus der Rubrik «Jung und Alt im Zug».

Es ist Pendlerzeit und ich bin wegen eines Termins frühmorgens unterwegs. Vis-à-vis von mir fläzt sich ein mittelaltriger Mann laut seufzend in seinen Sitz. Genau, geht es mir durch den Kopf, es ist eine Zumutung, sich so früh am Morgen dem Dichtestress auszusetzen. Und ich bin wohl Teil der Zumutung, denn mein Gegenüber würdigt mich keines Blickes. Kein «Guten Morgen!» oder «Ist hier noch frei?» käme über seine Lippen. Das mürrische Gesicht verschwindet umgehend hinter der Gratiszeitung. Gleichzeitig weist die weibliche Lautsprecherstimme darauf hin, dass heute Fahrstreckenerhebungen gemacht werden.

Im Zug. – Bild: Manuel Meister
Im Zug. – Bild: Manuel Meister

Ein paar Minuten später fordert uns eine junge Zugbegleiterin freundlich auf, unsere Tickets vorzuweisen. Doch «oha lätz» mein Gegenüber, plötzlich hellwach, geht die junge Kontrolleurin unwirsch laut an und verlangt, dass sie ihm ihren Ausweis zeige. Sie und ich – über den unfreundlichen Ton des Mannes wohl gleichermassen irritiert – schauen uns kurz an und ich solidarisiere mich mit einem Augenzwinkern mit ihr. In aller Ruhe durchsucht die Zugbegleiterin ihre Umhängetasche, ohne jedoch fündig zu werden. Gelassen sagt sie: «Tja, mein Ausweis ist in meiner anderen Tasche, und die habe ich jetzt nicht dabei». «Eben, da könnte ja jede kommen, von wegen Billettkontrolle…» platzt es ruppig aus meinem Sitznachbarn heraus. Souverän tönt die Antwort der jungen Frau: «Wissen Sie was? Dann lassen wir es einfach bleiben.» Sie lächelt und widmet sich seelenruhig meinem Ticket, fragt nach meiner Reiseroute und geht weiter ins nächste Abteil.

Mir fiel auf, dass mein Sitznachbar während des ganzen Intermezzos, weder die Kontrolleurin, noch mich, noch andere Mitreisende direkt angeschaut hat. Trotzdem ist es ihm gelungen, sich in Szene zu setzen, auf sich aufmerksam zu machen. Ob das wohl seine Art ist, mit seinen Mitmenschen in Kontakt zu treten? Wie auch immer, der Start in den Tag kann auch so gelingen.


Alt und Jung im Zug

Gemeinsam unterwegs: zwei Generationen auf Konfrontationskurs im Öffentlichen Verkehr. Abgefahrene Alltagsgeschichten, die sich in einem Zug lesen lassen.

Bild: Jana Daepp
Bild: Jana Daepp
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