Objektiver Sinn: Mythos oder Realität?

Objektiver Sinn: Mythos oder Realität?

Im Rahmen einer UND-Runde wurde die Frage nach dem Sinn des Lebens aufgeworfen. Für viele ist dies eine Frage persönlicher und individueller Vorstellungen. Doch was ist mit einem allgemeingültigen, objektiven Sinn? Auf Spurensuche.

Einem, der ihn fragte, warum wohl jemand eher wählen möchte geboren, als nicht geboren zu werden, soll Anaxagoras geantwortet haben: «Um den Himmel, den gesamten Kosmos, die Gestirne, den Mond und die Sonne zu betrachten.»

Der Mensch gilt als die einzige Spezies, die die Fähigkeit besitzt, über ihre eigene Existenz nachzudenken. Dadurch stellt er sich zwangsläufig die Frage nach dem Sinn des Lebens. Die Diskussion in der UND-Runde verdeutlichte die Vielfalt der Interpretationen dazu. Von zwischenmenschlichen Beziehungen und der Zugehörigkeit zu einer Gemeinschaft bis hin zur Bedeutung von Gesundheit und Weiterentwicklung wurden diverse Ansätze vorgestellt.

Nur eine individuelle Angelegenheit? In der UND-Runde treffen verschiedene Ansichten aufeinander.
Bild: Rebekka Flotron

Für viele Teilnehmer:innen war Sinn eine äusserst individuelle Angelegenheit, die nicht verhandelbar schien. Die Sinn-Frage wurde jedoch nicht nur auf persönlicher Ebene, sondern auch im Kontext gesellschaftlicher und politischer Strukturen diskutiert. Dabei wurde deutlich, dass Sinn nicht isoliert betrachtet werden kann, sondern eng mit Existenzfragen, religiösen Überzeugungen und moralischen Vorstellungen verflochten ist. 

Inmitten dieser Vielfalt blieb eine zentrale Frage bestehen: Ist Sinn subjektiv oder objektiv? Ich möchte deshalb im Folgenden versuchen, einem möglichen objektiven Sinn auf die Spur zu gehen.

Gibt es einen objektiven Sinn? Der Mensch gilt als die einzige Spezies, die die Fähigkeit besitzt, über ihre eigene Existenz nachzudenken.
Bild: KI-generiert, Dall-E

Alltagsfragen

Unsere heutige Welt ist geprägt von Krieg, Krisen und Ungleichheit. Unter diesen Umständen erscheint alleine die Möglichkeit, über diese Frage nachzudenken, als ein Privileg. Die Frage führt nämlich weit über die alltäglichen Fragen hinaus. Als lohnabhängige Person stellen sich täglich tausende Fragen, für die auf die Schnelle eine Antwort gefunden werden muss. «Wann stelle ich morgen meinen Wecker? Was muss ich am Mittag einkaufen und was koche ich am Abend? Wann habe ich Zeit für meine Familie? Und wie bezahle ich die nächste Rechnung?» Das sind Fragen des Überlebens und nicht Fragen des Lebens. Fragen der reinen Reproduktion und nicht Fragen der Weiterentwicklung.

Geschichte der Menschheit

Seit seiner Geburt widerstreitet sich der Mensch mit der Natur. In einem beständigen Prozess versucht der Mensch, selbst Herrscher der Naturkräfte zu werden, respektive sich von den Naturgesetzen weitestgehend unabhängig zu machen.
Das Leben war für unsere frühen Vorfahren ein ständiger, harter Überlebenskampf gegen die Kräfte der Natur. Der Fortschritt ging extrem langsam vonstatten. Zu Zeiten der Jäger und Sammler wurden die ersten Steine geschliffen und die ersten simplen Körbe geflochten, um die Jagd oder das Sammeln effizienter zu machen. Indem die Menschen in die Natur einwirkten, das heisst, indem sie menschliche Arbeit verrichteten, begannen sie mehr und mehr zu verstehen, was es braucht, um zu überleben, und das mit immer weniger Aufwand und zunehmendem Ertrag.

Später folgte der Ackerbau. Durch die neuen, effizienteren Produktionsweisen hatten Menschen mehr Zeit – Zeit für komplexes analytisches Denken. Das wiederum führte zu Weiterentwicklung und Effizienzsteigerung in der Produktion. Heute sind es keine Speere oder Körbe mehr, sondern riesige Fabriken und Computer. 

Stetiger Fortschritt

Der Sinn des Lebens scheint in dieser Hinsicht kein statisches Konzept zu sein, sondern ein fortwährender Prozess des Lernens und Verstehens, wie die Welt funktioniert und wie wir als Individuen darin agieren. Dieser Prozess wird oft durch schwierige Situationen angeregt, die uns dazu zwingen, uns mit den realen Bedingungen unseres Daseins auseinanderzusetzen. Der Weg von einem geflochtenen Korb unserer Vorfahren bis hin zu Fabriken mit globalen Lieferketten in der Neuzeit war keinesfalls ein geradliniger. Er führte durch verschiedene Gesellschaftsformen und deren jeweiligen Produktionsverhältnisse hindurch.

Mehr Zeit zum Denken dank effizienteren Produktionsweisen: Hier die Rotations-Buchdruckmaschine 1885.
Bild: unsplash

Auf das feudalistische Mittelalter folgte die Industrialisierung durch den Kapitalismus. Das sorgte für eine sprunghafte, exponentielle Weiterentwicklung, da sich der Handel als eine deutlich effizientere Produktionsweise herausstellte.

Die Frage nach dem Sinn des Lebens lässt sich am besten mit einem materialistischen Blick auf die Menschheitsgeschichte beantworten: Der Mensch, der durch seine Arbeit in die Natur einwirkt, so sein Wissen und seine Werkzeuge weiterentwickelt, und dadurch immer mehr die Kontrolle über die Naturgesetze gewinnt – was ihm ein immer besseres Leben ermöglicht. Mit dem finalen Ziel einer Welt, eines Lebens ohne jeglichen Mangel; ein wirklich humanistisches Leben. 

Die Weltgeschichte als Ganzes ist sozusagen der Prozess der Menschwerdung des Menschen. Im Vollzug dieses Prozesses steckt der Mensch seine Kräfte in die verschiedenen Produktionsweisen. Der Mensch ist das Resultat seiner eigenen Arbeit. Indem er arbeitend die Welt verändert, verändert er sich selbst.

Wer bestimmt den Sinn?

Aktuell gültige Sinngebungen oder Moralvorstellungen sorgen für ein stabiles gemeinschaftliches Zusammenleben, helfen aber auch, die vorherrschenden Verhältnisse aufrechtzuerhalten. Die Geschichte ist deshalb zu grossen Teilen eine des Kampfes zwischen jenen, die gebrauchsfertige und obligatorische Sinngebungen verwalten, und jenen, die diese Sinngebungen kritisch befragen.

Es ist eine Frage, die für alle diejenigen gefährlich ist, die den Sinn ihres Daseins in der Erhaltung des jetzigen Zustandes sehen, es ist also eine für Bürokraten und Konservative unerträgliche Frage.

Leszek Kolakowski

Die Frage nach dem Sinn des Lebens stellt sich als eine Frage der Praxis. Das Leben ist dann sinnvoll, wenn es dem Menschen gelingt, den bestehenden Widerspruch von überholten Produktionsverhältnissen zu eliminieren, effizienter zu machen und Arbeit aus einem Mittel blosser Selbsterhaltung zu dem zu machen, was sie an sich ist: freie Selbsttätigkeit und kreative Entfaltung aller menschlichen Potenzen. Das ist nur möglich in einer Welt ohne Mangel.

Die wahrhafte Auflösung des Widerspruchs zwischen dem Menschen und der Natur, die wahre Auflösung des Streits zwischen Existenz und Wesen, zwischen Freiheit und Notwendigkeit, zwischen Individuum und Gattung: Das könnte man als aufgelöstes Rätsel der Geschichte und somit als objektiven Sinn der Menschheit bezeichnen.

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