Im Juni 2019 rettete Carola Rackete, 1988 in Preetz geboren, im Rahmen ihres Engagements für die zivile Seenotrettungsorganisation Seawatch mehr als 50 geflüchtete Menschen aus dem Mittelmeer. Nachdem sie wochenlang keine Berechtigung erhielt, mit ihrem Schiff «Seawatch 3» im Hafen von Lampedusa anzulegen, fuhr sie ohne Erlaubnis ein, wurde verhaftet und unter Hausarrest gestellt. Ihre Verhaftung durch die italienische Regierung brachte ihr internationale Bekanntheit. Seit 2021 ist das Verfahren eingestellt.
Carola Rackete und ihre zwei MitaktivistInnen vom Referendumskomitee und Bündnis «No Frontex» kommen in einem kleinen, vollbeklebten Bus auf dem Gelände des Gymnasiums Thun-Schadau an. Thun ist der zweite Stopp ihrer Info-Tour durch die Schweiz. Zuvor waren sie in Interlaken, fahren nachher noch nach Bern, Zürich, Winterthur, St. Gallen und Schaffhausen.
Ihr Ziel: Insbesondere in kleineren Städten das Gespräch zu Frontex, der europäischen Grenzagentur, anregen und die Schweizer Bevölkerung über die umstrittene europäische Grenzagentur aufklären.
Wir treffen Carola Rackete in der Mediathek des Gymnasiums Schadau und unterbrechen sie bei einem Zoom-Meeting über Ökologie und Naturschutz, denn eigentlich ist Carola Rackete Naturschutzökologin.
Luc, der Mann hinter der Kamera, und ich wollen es wissen. Uns alle interessiert die Person «Carola Rackete»: Wer ist sie? Warum wurde sie Kapitänin? Was sind ihre Beweggründe? Wir merken aber schnell: Carola Rackete will über Inhalte sprechen, nicht über ihre Person. Am Politpodium zum Frontex-Referendum kritisiert sie denn auch: «Ich finde es schade, dass das Engagement vieler Leute nicht gesehen wird. Das ist eigentlich immer so, es fokussiert sich medial auf ein paar Leute und alle anderen, die im Hintergrund mitarbeiten, werden nicht gesehen.»
Wir bleiben also bei den Inhalten.
Abolish Frontex: ein Netzwerk, das Migrationspolitik
neu erfinden möchte.
Vor zwei Jahren gründete Carola Rackete mit FreundInnen das internationale Netzwerk «Abolish Frontex». Es war nach ihrer Ansicht dringend nötig, denn zu dieser Zeit häuften sich bereits Berichte über nachweisbare Menschenrechtsverletzungen an der europäischen Aussengrenze.
Carola führt ein Beispiel an: Frontex informiere libysche Milizen über Boote im Mittelmeer, die dann illegal nach Libyen zurückgeführt würden. Die Flüchtenden seien häufig schweren Menschenrechtsverletzungen ausgesetzt. Die Vorwürfe, dass Frontex diese Menschenrechtsverletzungen sehe und vertusche, führten am 29. April 2022 zum Rücktritt des Frontex-Chefs Fabrice Leggeri.
Carola Rackete betont: Nicht nur das Netzwerk «Abolish Frontex» kritisiere die Grenzagentur, auch in der Europäischen Union sorge Frontex für Missstimmung. Die EU-Antikorruptionskommission OLAF legte der EU einen langen Bericht über die Agentur vor, was zu einem teilweisen Einfrieren des EU-Budgets führte. Das Zurückhalten von Geldern durch die Schweiz wäre deshalb kein Novum.
Gerade diese Entwicklungen seien vielen SchweizerInnen unbekannt, sagt Carola Rackete weiter. Das motiviere sie zusätzlich, sich in diesem Abstimmungskampf einzusetzen; nicht unbedingt, um zu gewinnen, sondern um aufzuklären und zu informieren.
Warum zusätzliche Gelder nicht immer helfen
In der Schweiz sind sich viele eigentlich einig: Menschenrechtsverletzungen an der europäischen Aussengrenze sind ein grosses Problem. Der Frontex-Ausbau und die zusätzlichen Gelder sollen die Agentur dabei unterstützen, gegen diese Menschenrechtsverletzungen vorzugehen.
Carola Rackete erklärt: Frontex erlebte bereits mehrere Finanzierungsaufstockungen und trotzdem schaffen es Länder im Schengen-Raum nicht, die Agentur zu kontrollieren. Warum sollten weitere Millionen nun plötzlich etwas verändern können?
«Wir müssen politisch kreativ sein und Möglichkeiten schaffen, anders Kontrolle über diese Agentur
Carola Rackete (33)
zu erlangen.»
Im Schweizer Referendum sieht Carola Rackete besonderes Potenzial, denn ein Frontex-Nein würde der Schweiz neuen Verhandlungsspielraum einräumen. Ob die Schweiz wirklich in einer solchen Position ist? Carola Rackete ist überzeugt davon.
Unser Ziel sollte sein: Abschaffung der Grenzen
Den BefürworterInnen der Grenzabschaffungen wird oft Naivität und Idealismus vorgeworfen. Carola Rackete fordert ebenfalls durchlässige, offene Grenzen, ist sich aber bewusst, dass dies nicht von heute auf morgen geschehen kann: «Wir müssen aber darauf hinarbeiten.»
Umgang mit geflüchteten Menschen:
geprägt von einem tiefgreifenden strukturellen Rassismus
Carola Rackete macht unter anderem auch einen tiefgreifenden, strukturellen Rassismus verantwortlich für die Missstände an der europäischen Aussengrenze. Doch nicht nur bei Frontex stellt sie rassistische «Werte» fest, sondern allgemein in Europa. Die Solidarität gegenüber geflüchteten Menschen aus der Ukraine freue sie, betont Carola Rackete, aber syrische Menschen, die ebenfalls aufgrund vor russischen Bombenangriffen auf der Flucht seien, würden an den Grenzen leider nicht gleich behandelt.
Sie plädiert für anti-rassistische Arbeit: nicht nur bei Frontex, nicht nur an der Aussengrenze, sondern überall.
Wie Krisen und Konflikte zusammenhängen
Carola Rackete scheint auf alle Fragen eine prompte und sachliche Antwort zu haben. Erst bei der Frage, wie günstig der aktuelle Zeitpunkt – wir stecken in einer Pandemie, es herrscht Krieg, das Klimaproblem ist nicht gelöst – sei, um über Frontex zu sprechen, stutzt sie zum ersten Mal.
Sie antwortet: «Es ist nie ein günstiger Zeitpunkt, um über Gewalt zu sprechen.» Und etwas pessimistisch fügt sie hinzu: «Es wird in der Zukunft immer irgendwo eine Krise auftauchen. Deshalb dürfen wir die Hände nicht in den Schoss legen.»
Sie nennt ein eindrückliches Beispiel: Klimaaktivismus und der Krieg in der Ukraine.
Zum ersten Mal befürwortet in Deutschland eine Mehrheit ein allgemeines Tempolimit. Der Ukraine-Krieg und die damit verbundene Ressourcenknappheit zwingt EuropäerInnen dazu, ihren Energiekonsum zu überdenken und das Klimathema von einer neuen Perspektive her zu betrachten. Von Profitieren kann nicht gesprochen werden, aber der Klimaaktivismus soll die Chance nutzen dürfen.
Es braucht einen breiten Aktivismus
Carola Rackete ist Naturschutzökologin. Ihr Klimaaktivismus ist damit leicht zu erklären. Doch was motiviert sie dazu, sich für Menschen an der europäischen Grenze einzusetzen? Die (simple) Notwendigkeit, sagt sie. Ausserdem hätten die Missstände an der Grenze und die Klimakrise etwas gemeinsam: soziale Ungleichheit als zentrale Ursache.
Auch wenn ihre Forderungen manchen idealistisch erscheinen mögen, sie hat sehr pragmatische Vorstellungen von Aktivismus: Breite Mobilisierung und konkrete Werkzeuge zur Verfügung stellen. Und dabei, so Carola Rackete, könnten Vereine wie UND Generationentandem, die den Generationendialog und das gemeinsame Tun bewusst fördern, einen grossen Beitrag leisten.
Die Sonne geht hinter den Gebäuden unter, das natürliche Licht verschwindet langsam: Inspiriert von ihrem pragmatischen Aktivismus, beenden wir das Interview mit Carola Rackete.