Zoé: Zum Zeitpunkt, da ich diese Zeilen schreibe, befindet sich die Schweiz seit mehr als einer Woche im Ausnahmezustand. Das öffentliche Leben der Schweizerinnen und Schweizer ist von einem Moment auf den anderen eingefroren. Die Thuner Altstadt ist wie leergefegt, geschlossen sind Bars, Restaurants und Läden. Eine schon fast gespenstische Stille liegt über der Stadt.
Telsche, du bist 82 Jahre alt. Vom Standpunkt meiner zarten 20 Jahre aus, ist das ein beachtliches Alter. Du gehörst somit zur Gruppe, die am stärksten vom Coronavirus bedroht ist. Wie geht es dir in der aktuellen Situation?
Telsche: Diese Woche wollte ich den Frühling im Schwarzwald geniessen, stattdessen bin ich hiergeblieben und habe das Gefühl, ich befände mich schon seit einem Monat im «Hausarrest». Wir sind zu zweit. Mein Mann und ich lesen, hören und sehen Nachrichten, um ja nichts zu verpassen. Risiko hin oder her, wir sind alte Leute, unser Leben ist gelaufen. Wir dürfen nicht mehr so weit in die Zukunft planen, deshalb sind wir ziemlich gelassen. Wir leben komfortabel, für Lebensmittel ist gesorgt. Aber plötzlich Hilfe annehmen zu müssen, empfanden wir doch als Eingriff in unsere Autonomie. Es ist uns schwergefallen.
Unsicherheit ist für uns kein grosses Problem, die Welt wird sich weiterdrehen, diese Lebenserfahrung haben wir mit Jahrgang 1934 und 1937 schon einmal gemacht. Niemand garantiert uns ein sicheres Leben! Wir sind zuversichtlich, dass menschliche Neugier und Forscherdrang auch diesen Virus bezwingen werden. Die grössere Schwierigkeit wird sein, mit der Ausbeutung der Natur aufzuhören, nicht den Ast abzusägen, auf dem wir alle sitzen. Das macht mir Kopfzerbrechen. Was wäre, wenn es kein Wasser mehr gäbe oder ein Stromausfall über Wochen unsere «Schöne Neue Welt» lahmlegen würde? Viel schlimmer? Geschichte wiederholt sich nicht, es gibt aber neue Fragestellungen.
Zoé: Du hast als Kind in Deutschland den Zweiten Weltkrieg erlebt. Für mich ist das ein Ereignis aus Geschichtsbüchern, das sehr weit weg von meiner eigenen Lebensrealität ist. Dass du diese Zeit miterlebt hast, will mir fast nicht in den Kopf. Ich bin in einer Welt aufgewachsen, die Sicherheit versprach, in der der Traum vom unendlichen Wirtschaftswachstum noch möglich war und Ressourcen verschwenderisch verbraucht wurden. Ich benutze bewusst die Vergangenheitsform. Denn je älter ich wurde, desto mehr geriet dieses Bild ins Wanken. Nun sprechen gewisse Staatspräsidenten wieder von Krieg, und die Schweiz ist seit Tagen im Krisenmodus wie seit dem Zweiten Weltkrieg nicht mehr. Man kann den Zweiten Weltkrieg natürlich nicht mit der jetzigen Situation vergleichen. Trotzdem scheinen viele Leute z.B. Angst vor einem Lebensmittelengpass zu haben. Beobachtest du gewisse Parallelen im Verhalten der Leute, wenn du dich an deine Kindheit im Krieg erinnerst?
Telsche: Da hast du etwas Interessantes angesprochen. Diese Erfahrung ist ein fester Bestanteil meiner Identität. Gespräche über Politik in unserem deutschen Freundeskreis führen immer in eine Einbahnstrasse, geradewegs zu den Kernthemen deutscher Geschichte zurück. Ich habe meine Lektion gelernt: Frieden ist wichtiger als ein gefüllter Magen. Schlimm und gefährlich ist, dass wir Menschen verführbar und unberechenbar sind. Sei froh, dass du mit dem tragenden Gefühl der Zuversicht und Geborgenheit aufgewachsen bist, es macht dich stark.
Jetzt empfinden viele die Bedrohung durch das Virus als Angriff auf ihre Existenz. Das ist berechtigt, aber wir werden es überleben, fragt sich nur wie. Es ruft uns auf, vernünftig zu sein, den Panikmachern nicht auf den Leim zu gehen und unsere Mitmenschlichkeit zu leben. Hat doch der Autor Bertolt Brecht gesagt: «Nur eines ist sicher auf der Welt, dass die Verhältnisse sich wandeln!» Wir Lebenden müssen uns an sie anpassen, so hart es ist. Was jetzt passiert, z. B. die Hamsterei, war damals genauso, weil wir immer zuerst an uns selbst denken. Wir befinden uns heute aber nicht im Krieg, alle sind wohlgenährt, es gibt genug zu kaufen. Deshalb ist Hamstern jetzt so verwerflich. Nach der «Stunde Null» im Zweiten Weltkrieg gab es nichts mehr. Uns wurden die vorhandenen Lebensmittel zugeteilt, «rationiert». Du konntest nur mit einer «Lebensmittelkarte» einkaufen.
Zoé: Das Tückische an der jetzigen Krise ist, dass der Feind unsichtbar ist. Ein Virus kann man nicht von blossem Auge erkennen, Infizierte merken oft nicht einmal, dass sie infiziert sind. Macht dir das Angst?
Telsche: Das «kleine, unsichtbare Biest» macht mir wirklich am meisten Sorgen. Ganz unmittelbar bin ich mit der Tatsache konfrontiert, dass eine Infizierung meinen Tod bedeuten würde. Ich wage mir kaum vorzustellen, was ich in Bildern aus Italien schon gesehen habe: Umgeben von weissen Wesen in Schutzanzügen, ich verkabelt, dämmere dahin und sterbe einen einsamen Tod. Ich bin ehrlich, so surreal es sich anhört, das muss ich mir klarmachen. Das ist eine apokalyptische Szenerie, die schrecklich ist.
Niemand von meiner Familie darf derzeit bei mir sein. Trifft meine oben beschriebene Szenerie ein, wäre die Umarmung, die wir beim letzten Treffen hatten, die endgültig letzte gewesen… das ist zutiefst unmenschlich, das verweigere ich mir doch vorzustellen. Es motiviert mich aber, konsequent vorsichtig zu sein. Ich stelle mir lieber vor, dass ich alle meine Lieben gesund in naher Zukunft wieder in die Arme nehmen kann. Kaum vorstellbar, wie schön und innig das sein wird!
Zoé: Während die einen von einer Welle der Solidarität sprechen, sehen die anderen in der jetzigen Situation vor allem Egoismus. Die EU-Aussengrenzen werden noch stärker abgeriegelt als vorher und auch innerhalb Europas werden die Grenzen geschlossen. Jedes Land kämpft für sich allein. Menschen, die kein Heimatland haben, in dem sie sicher leben können, werden komplett sich selber überlassen. In den Flüchtlingslagern auf den griechischen Inseln leben Tausende von Menschen unter schlimmsten Bedingungen. Die Hygienevorrichtungen sind katastrophal, die Menschen sind geschwächt und anfällig für Krankheiten.
Gleichzeitig übertrumpfen sich die Regierungen gegenseitig in patriotisch anmutenden Reden. Die eigene Nation wird gelobt und die Wichtigkeit des Zusammenhaltes der BürgerInnen eindringlich betont. Dieser Appell scheint bei vielen anzukommen. Gesunde kümmern sich um Kranke, Junge besorgen die Einkäufe für Alte, Nachbarn unterstützen sich in der Kinderbetreuung und Arbeitskollegen helfen sich gegenseitig bei der Installierung neuer online-Arbeitstools. Es gibt regelmässig Balkonapplaus für das Pflegepersonal in den Spitälern, für die Verkäuferinnen in den Supermärkten, die Menschen in der Verwaltung. Was siehst du, Telsche, Egoismus oder Solidarität?
Telsche: Darauf eine einfache Antwort: Dem Virus sind wir Menschen egal. Ihm gefällt es hier. Es macht sich ganz egoistisch mit rasendem Tempo breit, und wir haben keine Ahnung, wie wir ihm beikommen können. Da wehren wir uns natürlich. Die Vertreibung dieses Aggressors bindet alle uns zur Verfügung stehenden Kräfte, jedes Land tut das, was ihm möglich ist. Hinzu kommt, dass wir Menschen eine lange Entwicklung in der Evolutionsgeschichte durchgemacht haben. Wenn wir uns existenziell bedroht fühlen, wie in dieser Krise, handeln wir panikartig dem «alten» Verhaltensmuster entsprechend und beginnen zu horten. Wir helfen einander doch ganz solidarisch, wo wir können. Aber weil sich jetzt unser ganzes Denken und Handeln überall in der ganzen Welt nur um diese Bedrohung dreht, ist das Problem der Heimatlosen und der Gestrandeten in den Hintergrund gerückt. Die Hilfe für diese Mitmenschen ist immer zu knapp und die Solidarität spielt hier nicht. Ja, das ist bedauerlich. Aber ich verstehe auch, dass die Industrieländer unbedingt versuchen, ihre Wirtschaft nicht absacken zu lassen – wenn das passieren sollte, können wir gar nicht mehr helfen.
Es wird bis in alle Ewigkeit eine Riesenaufgabe bleiben, für Gerechtigkeit unter den Menschen zu sorgen. Wir Menschen sind vielleicht das grösste Problem bei dieser Aufgabe.
Zoé: Und wie steht es um die Solidarität der Jungen? Auch von uns wird viel abverlangt momentan. Das Coronavirus stellt für uns keine ernsthafte Bedrohung dar, trotzdem müssen wir uns an die strengen Regeln der Regierung halten. Plötzlich dürfen wir unsere Freunde nicht mehr treffen, nicht mehr draussen chillen, nicht mehr zur Schule gehen – auch wenn Letzteres einigen sicher Freude bereitet. Aber auf die Dauer ist es nicht so lustig. Wir haben das Glück, mit Facetime und Co. vertraut zu sein, das erleichtert das Ganze ein bisschen. Aber ich nerve mich, wenn ich wochenlang in meinem Zimmer ausharren muss, um meine alten und kranken Mitmenschen nicht zu gefährden, und dann beobachten muss, dass die SeniorInnen selber sich eher wenig an die verordneten Massnahmen halten. Unter meinen Freunden gibt es einige, die mit rauchenden Köpfen ihre Grosseltern davon zu überzeugen versuchen, doch bitte zu Hause zu bleiben. Und dann Dinge hören, wie «Ach, weisst du, mein Leben ist ohnehin schon fast fertig.» oder «Ich lasse mir nichts vorschreiben, schon gar nicht von meinen Kindern und Grosskindern.» Wie sieht es in deinem Freundeskreis aus, Telsche?
Telsche: Genauso ist es. Gestern erzählte mir eine Freundin (80), ihre Putzfrau habe ihr abgesagt. Sie putze halt nun wieder selber. Sie sei ja gesund und trage dann eine Maske und Handschuhe. Sie kaufe auch noch um die Ecke ein. Eine andere (82) – kurz nach einer Operation – erzählte mir, ihr Mann kaufe alles ein. Auf meinen Hinweis, das dürfe er nicht, denn er gefährde sie damit, herrschte Stille in der Telefonleitung. Auch ich spare meine Lebensmittel, damit ich nicht so oft die junge Familie mit dem Cargo-Velo bemühen muss, die sich freundlicherweise für Einkäufe zur Verfügung gestellt hat.
Fremder Hilfe gegenüber habe ich eine starke Hemmung. Ich würde auch jetzt lieber selber einkaufen. Das regt euch auf, aber Ausreisser gab und gibt es auf beiden Seiten. Es ist doch so. Wir leben alle unser System: «Individuelle Freiheit über alles!» Sie ist die Metapher für unser Leben in einer demokratischen Gesellschaft. Wir haben Persönlichkeitsrechte und identifizieren uns mit ihnen. Sobald es um Einschränkungen oder Verbote geht, berufen wir uns auf unsere individuelle Freiheit, selbst entscheiden zu dürfen, besonders wir alten Menschen. Wie kostbar dieses Recht ist, wird mir jetzt erst klar, seitdem ich Bilder aus China gesehen habe. Dort griff der Staat sofort mit diktatorischen Massnahmen durch, Menschen wurden in ihren Häusern eingesperrt, Hauseingänge verbarrikadiert, keine Widerrede.
Nach «Corona» hoffe ich, dass wir auch über die Grenzen unserer persönlichen Freiheit diskutieren, denn Krisen in ähnlicher Schwere kann es immer wieder geben. Vielleicht gibt es gleichzeitig im Zusammenhang mit der Klimadiskussion auch Kritik und neue Ideen für unser ökonomisches System, denn hier ist für mich die Wurzel unseres gesellschaftlichen Verhaltens. Das Prinzip in der Wirtschaft, gegeneinander zu arbeiten, schneller und besser als die Konkurrenz zu sein, hat das Bewusstsein für ein gesellschaftliches Miteinander stark beeinträchtigt, vielleicht sogar verschüttet.
Zoé: Die Corona-Krise wird unsere Wirtschaft, unsere Politik und unsere Gesellschaft verändern und sie wird unser individuelles Verhalten verändern. Wie lange diese Krise noch andauern wird, wissen wir nicht. Welchen Verlauf sie nehmen wird, ebenso wenig. Was wir aber mit Bestimmtheit sagen können, ist, dass unser Leben nach der Krise nicht das gleiche sein wird wie vor der Krise. Und es liegt in unserer Hand, ob wir in diesem Wandel nur das Negative – den Verzicht, den Verlust, die Bedrohung – sehen, oder ob wir die Veränderung als Chance und Neuanfang betrachten und nutzen. Als Neuanfang für eine nachhaltigere Wirtschaft, für ein solidarischeres Zusammenleben – auch über die Grenzen hinweg –, für einen effizienteren Gebrauch neuer Technologien. Ich finde, das ist eine Überlegung wert.