«Dir syt so nes ober mega tolls Quartier!», zitierte eine Nachbarin stolz die Reaktion ihrer Freundin auf ihr im Whatsapp gepostetes Video, das einen singenden Menschenkreis zeigt: den Nachbarschaftschor Ad hoc, Quartier Mattenstrasse. Wie kam es dazu?
Entstehungsgeschichte
Als der Bundesrat wegen der Corona-Pandemie den Lockdown anordnete, gehörte ich zu denjenigen, die zu Hause bleiben sollten. In meinem Quartier leben schätzungsweise mehr SeniorInnen als der Thuner Durchschnitt von 24 Prozent. Wir sind also viele, die eine Abwechslung beim «Zuhausebleiben» begrüssen würden, dachte ich. Die Italiener haben sich in ähnlicher Situation den Alltag mit Singen versüsst. Vielleicht lässt sich dasselbe bei uns einführen? Ich überlegte nicht lange, verteilte in 76 Briefkästen der Nachbarschaft eine Umfrage mit der Beschreibung meiner Vision des gemeinsamen Singens samt Aufruf an Musiker unter uns, kurze Konzerte zu offerieren. Prompt sagte ein Alphornbläser zu. Mit seinem Konzert am 31. März 2020 begannen die musikalischen Abende im Mattenstrasse-Quartier. Zu singen fingen wir zu acht an; Anfang Mai zählte der Chor 26 Mitglieder mit 24 Liedern im Repertoire. Unter den SängerInnen sind alle Altersstufen von Vierzig- bis über Achtzigjährigen vertreten; besonders bemerkenswert dabei ist die Teilnahme der berufstätigen Pflegefachleute an ihren freien Abenden. Darbietungen einer vierzehnjährigen Geigerin und einer siebenjährigen Ukulele-Spielerin vervollständigten die musikalische Unterhaltung im Quartier.
Das treue Publikum bestand aus sieben ZuhörerInnen, die sich über Termine informieren liessen. Aber auch andere NachbarInnen, die gerade Lust hatten zuzuhören, öffneten Fenster und Balkone.
Umsetzung
Freude am Singen und guter Wille der Mitglieder machen die Qualität des Ad-hoc-Chores aus. Zudem profitierten wir von zwei starken Stimmen, denjenigen von Abwart Fritz Roth, einem Jodler, und Hans-Urs Hofer, einem Tenorsänger von der Thuner Kantorei. Der Letztere begleitete uns manchmal mit der Gitarre oder der Ukulele. Sonst sangen wir meistens zu Youtube-Vorlagen, die vom Smartphone mit Lautsprecher abgespielt wurden. Astrid Baumgartner übernahm dabei die Rolle der Tontechnikerin. Sie war auch dafür zuständig, aus den vorgeschlagenen Liedern diejenigen auszuwählen, die alle Teilnehmer auch singen konnten. Das «Tüpflein auf dem i» setzten mit ihrer Musik abwechslungsweise Arunothai Lisa Pfeiffer und Sylia Brügger. Die Dienstagsabende gehörten Andi Vögeli, dem Alphornbläser. Nicht einmal der Regen vermochte ihn vom Spielen abzuhalten. Seine regenfeste Fangemeinde wusste es zu schätzen. Als er einmal, arbeitsbedingt, seinen Auftritt absagen musste, würdigte ihn umgehend Lotti Zihlmann mit einem herzigen Kurzgedicht.
Ein Dämpfer
Dreimal pro Woche sangen wir jeweils nur vier bis fünf Lieder, damit unsere Treffen nicht länger als 10 bis 15 Minuten dauerten. Achtsam hielten wir den Abstand von zwei Metern zwischen Personen aus unterschiedlichen Haushalten ein. Auch die ZuhörerInnen setzten sich jeweils nur zu zweit auf Bänke, je eine Person an jedem Ende. Ganz gewiss haben wir uns also gegenseitig nicht gefährdet.
Eine der Sängerinnen informierte sich bei einer benachbarten Polizistin darüber, ob die Aufstellung des Chores den Corona-Vorschriften entsprach. Da unser Chor aber mehr als fünf Personen umfasste, bildeten wir eine verbotene Versammlung. Um diese «aufzulösen», mussten wir die Abstände zwischen den Singenden zusätzlich vergrössern. Eine verärgerte Stimme in unserem Gremium wollte daraufhin mit einer Petition an den höchsten Polizisten in Thun gelangen. Die Mehrheit befolgte jedoch den Vorschlag unserer Polizistin. In neuer Aufstellung sangen wir a cappella ausgerechnet in der Abwesenheit unserer stärksten Stimmen. Es tönte aber gar nicht schlecht. Sollte dies beweisen, dass die Akustik in unserm Quartier mit derjenigen der Mailänder Scala konkurrieren kann?
Highlights
Nach anfänglicher Skepsis kamen immer mehr dankbare QuartierbewohnerInnen zum singenden Gremium. Der erste Ukulele-Auftritt der siebenjährigen Sylia versetzte mich in Träumerei über frühere Erlebnisse mit meinen Kindern. Als sie klein waren, hörten wir sehr oft Musikkassetten mit Märchen und Kinderliedern, die wir bald alle auswendig kannten. Mit den Jahren sind sie in Vergessenheit geraten. Und plötzlich kannte ich einige wieder! Mit Überraschung und berührendem Humor feierten wir zwei Geburtstage. Dann entstand eine zukunftsträchtige Idee: der Corona-Chor sollte nach dem Lockdown in einen Geburtstagschor mutieren.
Das Schönste an der ganzen Sache ist die nicht abnehmende Begeisterung für das gemeinsame Unterfangen. Einige Meinungen dazu:
«Ich finde es super, dass wir in unserem Quartier
so etwas zustande bringen.»«Die Idee ist genial und wunderbar.»
«Dabei sein ist schöner, als allein sein.»
Unsere ZuhörerInnen brachten alle zum Ausdruck, dass sie Gesang und Musik lieben, aber selber schon nicht mehr singen können. Zuhören möchten sie gerne und informiert werden über die Termine der musikalischen Abende. Eine der konsequent nur aus dem Fenster zuhörende Nachbarin brachte dem Chor eines Tages eine Schale Pralinen. Eine andere rief mich an, besorgt, ob der Chor wirklich ihren Applaus höre von einer weit entfernter Bank aus. «Haben sie ein Kässeli?» fragte sie zudem. Na ja, alles kostet sonst in der Schweiz. «Nein, liebe Nachbarin», antwortete ich, «wir haben kein Kässeli. Wir singen einfach, um gute Laune zu verbreiten und den nachbarschaftlichen Zusammenhalt zu stärken.»
Den Letzteren geben wir hoffentlich nicht mehr her.
P.S. Wie wir den breiten Ausführungen um Corona-Vorschriften Ende Mai entnommen haben, war auch «die Aufstellung des Chors mit Auflagen» nicht gesetzeskonform. Zum Glück ist es niemandem sauer aufgestossen.