
Laut dem Bundesamt für Umwelt (BAFU) «landen» in der Schweiz 2,8 Millionen Tonnen Lebensmittel im Abfall, oder sie «wandern» dorthin. Sie werden gegen Gebühr in geeigneten Einrichtungen «entsorgt». Das BAFU spricht von Lebensmittel«verlusten» und zeigt auf: Ein Wert geht der Schweiz verloren.
Was machen diese Sätze mit dir? Stell dir diese Aussagen einmal bildlich vor: Die Lebensmittel wandern auf zwei Beinen oder sie landen ganz selbstständig im Abfall. Du legst einzig noch den Deckel auf den Kübel. Aus den Augen, aus dem Sinn, denn anschliessend werden Behörden aktiv, die du mit Steuern bezahlst. Sie «entsorgen» und mahnen «Verluste» an. Sie berechnen, wie viel verloren geht. Die Ausdrücke «verlieren» und «Verluste» nehmen dich auch nicht richtig in die Pflicht, denn Verluste geschehen meist ohne Absicht. All diese alltäglichen Formulierungen haben eines gemeinsam: Sie entlasten dich.
Schreiben wir doch noch einmal Klartext
Jeder und jede wirft pro Jahr rund 90 Kilogramm essbare Lebensmittel in den Abfallkübel und bezahlt dafür, dass gut organisierte Behörden sich um die zu viel oder fälschlicherweise eingekauften oder produzierten Esswaren kümmern. Das heisst für mich: Ich könnte verhindern, dass ich Lebensmittel vergeude und damit die Nahrung retten.
Macht der Sprache
Sprechen, Denken und Handeln hängen zusammen. Die Wahl der Wörter entscheidet mit darüber, welche Gedanken uns zum Handeln bringen. Wenn – wie im ersten Beispiel – Lebensmittel vermeintlich selbstständig in den Abfall wandern und in ihm landen, dann sind wir fein raus. Wenn wir von Abfall sprechen, denken wir an etwas Minderwertiges, wenn wir entsorgen sagen, meinen wir, dass wir die Sorge um die entsorgte Sache loswerden. Wollten wir den Tatsachen ins Auge sehen, hiesse dies, uns selbst als TäterIn zu sehen, uns an der Nase zu nehmen und Nahrungsmittel zu retten. Das beginnt mit einer ehrlicheren Wahl der Wörter und Sprachbilder.
Einer, der seit vielen Jahren zu diesem Thema forscht, ist Hugo Caviola (67). Er leitet seit 2014 das Forschungsprojekt Sprachkompass an der Universität Bern.

Hugo Caviola, waste, englisch für Abfall. Wieso sprechen wir von Foodwaste und nicht von Foodsave?
Das Wort Foodwaste hat in den letzten Jahren bei uns Fuss gefasst. Es benennt ein Problem der Konsumgesellschaft. Als Fremdwort riecht es etwas nach ExperInnenwissen. Es ist ein mittlerweile anerkannter Fachbegriff, der das Geschehen versachlicht und als Nomen leider viel Distanz zur handelnden Person schafft. Sätze mit «wir wasten» funktionieren (noch) nicht. Ganz anders die muttersprachlichen Verben verschwenden und vergeuden. Sätze wie: «Sie verschwenden!» oder «Vergeude nicht!» berühren das Herz, wecken Emotionen und sprechen Personen an, die handeln oder eben nicht handeln. Auch der Ausdruck Foodsave zeigt ein Handeln an (save = retten), doch es müsste sich auch als Verb (saven) noch mehr etablieren, um uns als handelnde Menschen direkter anzusprechen. Noch stärker wäre der Begriff Foodrescue. Rescue = Rettung zeigt eine Dringlichkeit auf.
Sätze wie: «Sie verschwenden!» oder «Vergeude nicht!» berühren das Herz, wecken Emotionen und sprechen Personen an, die handeln oder eben nicht handeln.
Hugo Caviola (67), Sprachforscher
Foodwaste, Abfall, Verlust: Wieso verwandeln wir Handlungen in Gegenstände?
Solche Versachlichungen halten uns die Probleme, zumindest sprachlich, vom Leib. Mit dem sterilen Foodwaste beschuldigen wir niemanden ganz konkret. Es geschieht einfach. Mit Abfall bezeichnen wir etwas Wertloses, das nicht mehr besonders geschützt werden muss. Verlust ist oft ein Missgeschick, das wir wenig beeinflussen können und zudem ein ökonomischer Begriff, etwa im Wort «Wertverlust». All dies hält uns die Verantwortung für das Vergeuden vom Leib. Diese Wörter entlasten uns, rücken die alltäglichen Probleme von uns weg.
Das BAFU zeigt zudem in einer Studie auf, wie sehr uns bewusst ist, dass diese Lebensmittelverschwendung vermeidbar wäre und schlecht ist. Doch befragt, wer denn Lebensmittel vergeudet und verschwendet, glauben wir, dass dies mehrheitlich die andern tun.
Wie hängen Sprache, Denken und Handeln zusammen?
Die Beispiele zeigen, dass der gängige Sprachgebrauch widerspiegelt, wie wir mit den Dingen umgehen und wie wir leben. Der Sprachgebrauch stützt und bestätigt unser Handeln, freilich meist, ohne dass wir uns dessen bewusst werden. Sprachwandel entsteht meist durch veränderte Wahrnehmung in einer Gesellschaft. In den 60er Jahren gaben wir noch rund 30 Prozent unseres Einkommens für Nahrung aus. Heute haben wir keine Not. Wir geben nur noch 10 Prozent unseres Einkommens für Nahrung aus. Der Wert der Lebensmittel ist im Vergleich zu früher drastisch gesunken. Zudem haben wir heute eine industrielle, oft globale Nahrungsmittelproduktion, die überwältigende Angebote erzeugt und sie in die Läden schafft.
Wir können immer wieder auf sprachliche Nuancen achten.
Hugo Caviola (67), Sprachforscher
Was können wir im Sprachalltag tun, Hugo Caviola?
Wir können immer wieder auf sprachliche Nuancen achten. Im besten Fall führt dies zu einer Veränderung der Einstellung und dann zu einem verantwortungsvollen Handeln. Wir könnten zum Beispiel öfter alte, vertraute Wörter wieder aufnehmen. Denn Verben wie vergeuden oder verschwenden haben eine moralische Dimension und verweisen auf ein wertvolles Gut, mit dem man achtsam umgehen sollte. In meiner Kindheit sagte man noch: «Du bist ein Güdi.» Das hört man heute seltener.

Eine Initiative zur Bekämpfung der Lebensmittelabfälle nutzt den Begriff der Food Ninjas. Food Ninjas, Lebensmittelretter, kämpfen gemeinsam gegen Lebensmittelverschwendung. Das Wort «Retter» schafft ein Identitätsangebot, es kann ein Wir-Gefühl auslösen. Lebensmittel zu retten beleuchtet die Sache von der positiven Seite, zeigt, was wir tun können und sollen. Auch Gedankenexperimente könnten helfen, die Dinge anders zu sehen. Ein Beispiel zum Thema Abfall:

Schon das Wort fallen (in Abfall) macht es uns leicht, Ungewünschtes loszuwerden. Wir lassen es einfach fallen, schicken es nach unten, meist ins Dunkle unter dem Spültrog. Kehren wir die Ordnung gedanklich einmal um: Wir verstauen den Abfall im Gestell über dem Spültrog fein säuberlich und getrennt in hübsche Gläser. Wir haben ihn dort ständig vor Augen. Das Verstauen auf dieser Höhe ist viel aufwändiger als rasch Klappe auf, Abfall fallen lassen und gut ist. So würde uns das Weggeworfene leichter bewusst. Und wer weiss: Vielleicht entstünde so bald auch ein neues Wort für den sogenannten Abfall.
Was tut der Sprachkompass?
Mit dem Projekt Sprachkompass wollen wir die Wirkung der Sprache auf unser Denken und Handeln bewusst machen. Wir bieten Interessierten eine Orientierung an, unterstützen sie darin, Formulierungen zu finden, die ihre Interessen ausdrücken. In unsere Forschungen beziehen wir auch Behörden und NGOs mit ein. Für einige Themen arbeiten wir auch mit Schulen zusammen. Momentan beschäftigen uns die Themen Ernährung und Mobilität. Wir sind an Tagungen dabei und erreichen ein gewisses Medienecho. Insofern ist ein Gespräch wie dieses ein Geschenk!
Hugo Caviola Geboren 1955 in Zürich. Studium der Germanistik und Anglistik in Basel und den USA. Dissertation zur Raumwahrnehmung. Tätigkeit als Gymnasiallehrer. Leitung von Forschungsvorhaben zur Metaphorik in der Wissenschaft und zur schulischen Interdisziplinarität. Leitete von 2014 bis 2016 das Forschungsprojekt Sprachkompass Landschaft und Umwelt, seit 2018 leitet er das Folgeprojekt Sprachkompass Mobilität und Ernährung. Wege zum suffizienten Handeln am Zentrum für Nachhaltige Entwicklung und Umwelt (CDE) der Universität Bern.
Erstes Foodsave-Bankett in Thun
Thun erhält sein erstes Foodsave-Bankett. Es findet am Sonntag, 18. September 2022 auf dem Roten Platz im Seefeld in Thun statt.
Nimm an der Tafel Platz, lass dich verwöhnen – zahle, was es dir wert ist.
