Das Generationenforum zum Nachschauen und Nachhören
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Die unbezahlte Care-Arbeit innerhalb von Familien führt nach wie vor zu einer ungleichen Prägung der Lebensläufe von Frauen und Männer – Gleichberechtigung und Chancengleichheit tun sich schwer. Was sind die Gründe dafür? Und wie erreichen wir eine Veränderung?
Diese Fragen begleiten das innovative erste Generationenforum des Jahres – Kinderfalle? Gleichberechtigung auf dem Prüfstand –, das am 24. Januar 2024 vor und mit 80 Interessierten im Rathaus Thun stattfinden konnte. Vier beeindruckende Gäste sprachen mit der Moderatorin Tabea Keller (24), die wie immer souverän und authentisch durch den Abend führte, über ihre Erfahrungen mit dem Thema, mögliche Lösungsvorschläge und ihre Visionen für die Zukunft.
Das Publikum nimmt Stellung
Die Besucher:innen – viele Junge sind dabei – drängen sich in der Vorhalle zum Stadtratssaal um vier Flipcharts. Bereits vor der Veranstaltung hatten sich die vier Podiumsgäste je einen prägnanten Satz ausgedacht, zu denen sie Stellung nehmen konnten. Rote Punkte zeigen den Grad des Einverständnisses an, Kommentare werden hingekritzelt.
Der Satz von Sarah Schweizerhof lautete: «In unserer Gesellschaft werden Kinder und die Sorge um sie zu wenig sichtbar gemacht und geschätzt.»
Regina Fuhrer schrieb: «Das Bild, dass eine Mutter daheim Betreuungsaufgaben übernimmt, ist noch viel zu sehr in unseren Köpfen verankert.»
Olivia Kühni sagte: «Die Schwierigkeit von Vereinbarkeit lässt sich nicht einfach so abschließend lösen, aber wir müssen einen besseren Umgang damit finden.»
Jonathan Schlegel postulierte den Satz: «Die Gesellschaft hat sich die Geschlechterrollen ausgedacht, und mit der Gleichstellung der Geschlechter sollen wir diese Erfindung wieder auflösen.»
Die vielen roten Punkte, die mehrheitlich ganz rechts positioniert wurden – «Ich stimme zu» –, zeigen: Die Podiumsgäste und das Publikum sind sich einig, es muss sich etwas verändern.
Komplexes Thema, spannende Gäste
Im Saal begrüsst Fritz Zurflüh die Anwesenden: «47% der Eltern möchten die Familienarbeit teilen – und 13% tun es. Das Thema muss also komplex sein.»
Und dass es so ist, zeigt das anschliessende Podiumsgespräch mit:
- Sarah Schweizerhof (38) ist Erwachsenenbildnerin, hat Arbeits- und Organisationspsychologie studiert und ist Mutter von zwei Kindern. Seit 2019 ist sie Teil des Feministischen Kollektivs Thun BEO.
- Regina Fuhrer (64) ist Biobäuerin im Ruhestand und politisch aktiv im Gemeinderat von Burgistein sowie im Grossen Rat des Kantons Bern.
- Olivia Kühni (44) ist Leiterin Politik bei der Alliance F. Zuvor hat sie viele Jahre als Wirtschaftsjournalistin gearbeitet, insbesondere zu Themen wie Arbeit, Vereinbarkeit und Care Economy.
- Jonathan Schlegel (36) ist Vater von zwei Kindern, arbeitet Teilzeit und ist aktiv im Verein Die Feministen, der Männer für Gleichstellungsthemen sensibilisiert und mobilisiert.
Eine ganz persönliche Standortbestimmung
Das Gespräch beginnt mit einer Standortbestimmung. Wo sind wir überhaupt? Was sind die aktuellen Herausforderungen? Die Moderatorin Tabea Keller (24) fordert ihre Gäste auf, ihre ganz persönlichen Einstellungen dazu zu erzählen. Hier ein paar Ausschnitte aus ihren Erzählungen:
Sarah Schweizerhof hat mehrere Frauen kennengelernt, die Kinder grossgezogen, Familienangehörige betreut und gepflegt hatten und dann aber im Alter plötzlich Ergänzungsleistungen beantragen mussten.
Regina Fuhrer war als Bäuerin insofern privilegiert, dass sie Familie und Beruf sehr gut vereinbaren konnte. Ihr Mann und sie haben die gesamte Arbeit gemeinsam erledigt. Sie war so weit emanzipiert, dass sie selbst Kühe gemolken und den Traktor gesteuert hat.
Olivia Kühni erzählt, wie sie sich zusammen mit verschiedenen Menschen um den Nachwuchs gekümmert hat: mit Kolleginnen, dem Partner, der Schwester und einer Ersatzoma. Die sinkende Geburtenrate betrachtet sie als ein Armutszeugnis. Es darf auch nicht selbstverständlich sein, die regelmässige Betreuung der Enkelkinder zu erwarten.
Für Jonathan ist klar: Die meisten Eltern fühlen sich überlastet, sobald Nachwuchs da ist. Plötzlich gibt es viele Bedürfnisse – «insbesondere den Wunsch nach mehr Schlaf.» Er selbst kann Teilzeit arbeiten und beteiligt sich selbstverständlich an der Familienarbeit.
Auch die Entscheidungsfreiheit wird angesprochen: Viele haben aus finanziellen Gründen keine Wahl, andere empfinden Familienarbeit als weitaus anstrengender als ihren Beruf, wieder andere möchten ihre Karriere nicht gefährden.
Wie klappt Vereinbarkeit?
Vereinbarkeit von Beruf und Familie ist herausfordernd, das zeigen die persönlichen Geschichten der Podiumsteilnehmer:innen. Doch was sollte sich denn konkret verändern, um eine bessere Vereinbarkeit zu ermöglichen?
Sarah empfiehlt Paaren, die das Thema Kinderkriegen ansprechen, bereits im Voraus über die Aufteilung der Familienarbeit zu diskutieren. Die Arbeitgeber:innen sollten mehr Verständnis zeigen, flexible Arbeitszeiten wären hilfreich. Wenn die gemeinsame Elternzeit eingeführt würde, hätten junge Frauen bei der Jobsuche die gleichen Chancen wie Männer: Noch nie wurde ein Mann gefragt, ob er vor hat, Vater zu werden…
Auch für Regina Fuhrer ist klar: Lohngleichheit würde für mehr Wahlfreiheit und Gerechtigkeit sorgen. Aber auch fehlende Tagesstätten sind eine strukturelle Hürde, externe staatliche Betreuungsangebote sollten organisiert sein.
Ähnlich wie Sarah Schweizerhof betont auch Olivia Kühni, dass Elternzeit für beide Elternteile hilfreich wäre. Sie weist aber auch darauf hin, dass eine Elternzeit für kleine Unternehmen zum Problem werden könnten. Und ein Tipp für alle Eltern: Das Unvorhersehbare sollte immer in Betracht gezogen werden – es lässt sich nicht alles im Voraus organisieren.
Jonathan Schlegel ist überzeugt: Veränderungen müssen auf allen Ebenen stattfinden. Es sollte in allen Bereichen möglich sein, Teilzeit zu arbeiten.
Und was ist die Vision?
Zum Abschluss wagen die Podiumgäste einen Blick in die Zukunft:
Olivia Kühni: Die Kleinfamilie bewährt sich nicht. In einer Kommune könnte sie jedoch nicht leben. Andere würden dann zu viel Einfluss nehmen. Sie findet, dass die Kinder nicht zum Gemeingut werden sollten. Genossenschaftliche Mehrgenerationswohnformen haben Zukunft.
Sarah Schweizerhof gefällt das Bild, das Olivia Kühni malt. Auch sie ist überzeugt: Zusammenarbeit, zum Beispiel mit anderen Familien ist wichtig. Das ist auch eine enorme Bereicherung für die Kinder.
Auch Jonathan Schlegel unterstützt diese Vision. Er findet die Kleinfamilie ebenfalls einschränkend. Eine akzeptierte Vielfalt der Familienmodelle nimmt den Erwartungsdruck weg: die Grossfamilie, die Patchworkfamilie ohne festgelegte Vater- oder Mutterrollen. Das Geschlecht sollte keine Rolle spielen. Er ist für Arbeitszeitverkürzung bei vollem Lohn. Care-Arbeit sollte ebenfalls als Arbeit anerkannt werden.
Regina Fuhrer betont noch einen weiteren Punkt: Die Fähigkeit, Entscheidungen ohne finanziellen Druck treffen zu können, ist wichtig. Die Veränderung der wirtschaftlichen und strukturellen Rahmenbedingungen ist die Voraussetzung dafür.
«Visionen müssen utopisch sein. Sonst kommen wir nie weiter.»
Regina Fuhrer
Klar ist: Veränderungen passieren nicht von heute auf morgen. Und für manchen mögen die Visionen der vier Podiumsgäste, die oben erwähnt sind, utopisch tönen. Doch wie Regina Fuhrer zum Abschluss des Gesprächs so schön sagte: «Visionen müssen utopisch sein. Sonst kommen wir nie weiter.»
Generationenforum?
Das Generationenforum ist ein offenes Format des konstruktiven Austauschs, des Weiterdenkens und Entwickelns für die grossen Fragen unserer Zeit. Immer entscheidend dabei: Alle Generationen reden mit – denn alle Generationen sind betroffen. Vier Themen in vier Foren pro Jahr: Das ist das Generationenforum von UND Generationentandem.