Befasst man sich mit Klischees und recherchiert im Internet, stösst man bald auf die Wortherkunft, die Auskunft gibt über den heutigen Gebrauch des Wortes. Der französische Begriff «cliché» bezeichnete ursprünglich ein Reproduktionsverfahren im Buchdruck. Klischees sind verallgemeinerte, stereotype Ansichten gegenüber einer bestimmten Gruppe von Menschen und werden wie die Abzüge damals im Buchdruck wiederholt eingesetzt.
«Klischees richten sich an Gesellschaftsschichten, die sich von der eigenen Lebensweise unterscheiden», stellt Nelio Flückiger (19) klar. Dass das Alter massgeblichen Einfluss auf die Lebensweise hat, ist unbestritten. Wir sind geprägt von unserem Umfeld und sozialen Normen, die sich von der stillen Generation über die Babyboomer bis zur Generation Alpha stets verändert haben, wie die Übersicht von Fritz Zurflüh und Tabea Keller (hier) zeigt. So erstaunt es nicht, dass oftmals Klischees der Jüngeren gegenüber den Älteren und umgekehrt im Raum stehen.
Die heute über 78-Jährigen haben den Ruf, viel und hart gearbeitet zu haben. Nur ein Klischee? Annemarie Voss (79) jedenfalls war es in jungen Jahren wichtig, die Balance zu finden zwischen Arbeit und Freizeit. «Natürlich habe ich gearbeitet, bin jedoch auch gerne gereist», erzählt sie. «Sicherlich hatte ich aber nicht grosse Ansprüche und mass dem Wohlstand wenig Bedeutung zu.» Doch gerade in der Nachkriegszeit, als der Wirtschaftsboom die Gesellschaft dominierte, nahm das Besitztum an Wichtigkeit zu.
«Ich denke, dass Jene, die damals jung waren, heute immer noch wertgeschätzt werden, weil sie Essentielles in unserer Gesellschaft aufgebaut haben», sagt Nadja Avramov (27). Diese Generation erntet nicht nur Lob, es existieren ebenso viele negative Klischees. Nadja weiter: «Natürlich störe ich mich ab und zu an der Sturheit älterer Menschen.» Sie nennt ein Beispiel aus dem Alltag: «Warum gehen Seniorinnen und Senioren dann einkaufen, wenn Berufstätige Mittagspause haben?»
Ebenfalls weit verbreitet ist das Bild der alten, müden, kranken Pensionäre. Das erlebt auch Hanna Peter (79): « Es stimmt mich traurig, dass ich nicht über meine Müdigkeit reden kann, obwohl niemand weiss, was dahinter steckt, sondern gleich zu hören bekomme: Ja, das ist das Alter.»
«Es stimmt mich traurig, dass ich nicht über meine Müdigkeit reden kann.»
Hanna Peter
Faul und oberflächlich? Nein!
Solche respektlos wirkenden Klischees erreichen ebenfalls die junge Zielgruppe. Die Frischlinge in der Berufswelt bekommen oftmals zu hören, ihr Alterssegment sei faul und oberflächlich. Dem widerspricht der 19-jährige Nelio: «Meine Generation steht aufgrund der aktuellen Weltlage vor einer ungewissen Zukunft. Die Illusion eines perfekten Familienlebens und einem Eigenheim zerbricht für viele Jugendliche. Sie stellen sich die Frage, warum sie alles in ihre Arbeit investieren sollen, obwohl sie nicht wissen, ob sich das jemals auszahlt.»
«Meine Generation steht aufgrund der aktuellen Weltlage vor einer ungewissen Zukunft.»
Nelio Flückiger
Dem pflichtet Melanie Germann (44), Dozentin der Fachhochschule Nordwestschweiz und vierfache Mutter, bei. Beruflich wie privat ist sie mit vielen jungen Menschen in Kontakt. «Die Statistiken zeigen, dass die Teilzeitrate unter den Berufstätigen bei den Jüngsten auf dem Arbeitsmarkt so hoch ist, wie bei keiner Generation davor.» Aufgrund der von Nelio genannten Ungewissheit steht die Freizeit vor der Arbeit, und das in einer Zeit, in der Ungleichgewicht herrscht: Nur halb so viele steigen ins Berufsleben ein, wie pensioniert werden.
An der Schwelle der Pensionierung steht Tom Hänni (65). Dabei sieht er eine Parallele zu den Einsteigenden im Arbeitsmarkt: «Mit zwanzig stellt man sich die Frage, was man im Leben erreichen will. Beim Austritt aus der Arbeitswelt ist diese Überlegung wieder hochaktuell.» Das Klischee des «Abstellgleises» nach der Pensionierung erlebt er als Realität. «Lange Zeit habe ich in einem Team gearbeitet, nun meldet sich niemand mehr. Ich muss mich «aufdrängen», um Teil der Gesellschaft zu bleiben», erzählt Tom.
«Mit zwanzig stellt man sich die Frage, was man im Leben erreichen will. Beim Austritt aus der Arbeitswelt ist diese Überlegung wieder hochaktuell.»
Tom Hänni
Chance, Klischees aufzuweichen
Wollen die Jungen gar keinen Kontakt mit Menschen im Ruhestand? Melanie protestiert. Aus ihrer Sicht fehle nicht der Wille und die Offenheit, sondern die zeitliche Kapazität, um den Generationenaustausch im Alltag zu pflegen. In der Lebensmitte trifft man auf verschiedene Herausforderungen: Die Kinder sind in einem Alter, in dem sie betreut werden müssen und beruflich ebnen sich Wege für einen Karriereschritt. Diesen Zwist kennt Melanie nur zu gut. Wöchentlich sei sie mit dem Klischee der «Rabenmutter» konfrontiert worden, berichtet sie. «Es hat mich verletzt, dass alle ihre Klischees platziert haben und niemand fragte, wie mein Mann und ich unser Familienleben organisieren», so die vierfache Mutter. Heute sehe sie es als Chance, im Dialog mit den Menschen diese Klischees aufzuweichen.
Annemarie hat einen anderen Umgang mit Klischees gefunden. Sie kümmert sich nicht darum, was Andere über sie denken, und möchte ihrem Gegenüber ohne Vorurteile begegnen. «Heute habe ich weniger Klischees über die jüngere als früher über die ältere Generation», sagt sie. Auch Hanna will die Jungen nicht mit Klischees behaften: «Ich erinnere mich noch gut an meine eigene Adoleszenz und habe Verständnis für die jungen Menschen.»
«Heute habe ich weniger Klischees über die jüngere als früher über die ältere Generation.»
Annemarie Voss
Klischees sind nicht das Problem
Die Gesprächsrunde widerspricht der Studie https://www.srf.ch/radio-srf-1/generationen-in-der-schweiz-sotomo-studie-generationengraben-ein-wachsendes-problem und zeigt sich konziliant. Es scheint doch nicht so zu sein, dass Klischees den generationenübergreifenden Austausch verhindern. Dennoch helfen sie, uns in der Welt zu orientieren. «Klischees sind nicht einmal das Problem», ist Nelio überzeugt, «grundsätzlich verfolgen die unterschiedlichen Altersgruppen die gleichen Ziele, sie haben nur andere Auffassungen davon, wie sie die Thematik angehen.»
Melanie vertritt die Ansicht, dass wir uns vielmehr darauf konzentrieren sollten, was uns unabhängig vom Alter verbindet: «Ich sehe die Grundbedürfnisse und Interessen der Menschen als verbindendes Element.»
«Ich sehe die Grundbedürfnisse und Interessen der Menschen als verbindendes Element.»
Melanie Germann
Damit dieses Miteinander funktioniert, brauche es laut Nadja Offenheit: «Ich erlebe auch junge Personen als zurückhaltend, das finde ich schade.» Wenn sie beispielsweise mit einem deutlich älteren Mann aus ihrem Freundeskreis unterwegs ist, fallen oft abfällige Kommentare.
«Ich erlebe auch junge Personen als zurückhaltend, das finde ich schade.»
Nadja Avramov
Generationenzusammenschluss anstatt Generationengraben
Driften die Generationen in Zukunft auseinander? Die Gesprächsteilnehmer:innen hoffen auf einen Generationenzusammenschluss anstelle eines wachsenden Generationengrabens. In der Runde taucht auch gleich eine innovative Idee auf, wie dies erreicht werden könnte: Wir bringen junge Familien mit älteren, einsamen Personen in Verbindung, damit sie sich gegenseitig unterstützen können – das schafft Sinn für beide Seiten. Beschuldigungen und Vorwürfe zwischen Jung und Alt verunmöglichen Veränderungen der Strukturen in unserer Gesellschaft. «Um miteinander generationenübergreifende Lösungsansätze zu finden», meint der 65-jährige Tom, «führt nichts an einer guten Kommunikation vorbei.» Miteinander im Dialog stehen, einander proaktiv ansprechen, auf das Gegenüber eingehen und die anderen Altersgruppen ernst nehmen: Diese Werte wurden in der Gesprächsrunde vorgelebt und haben aufgezeigt, dass von einem konstruktiven Miteinander der Generationen alle profitieren. Klischees stehen uns dabei nicht im Weg, solange wir sie immer wieder hinterfragen und sie uns nicht daran hindern, uns einander auf der menschlichen Ebene zu öffnen.