Die Problemstellung ist klar:
Uns allen kann es von einem Tag auf den andern passieren, dass wir hilfsbedürftig werden. Solange wir medizinische Hilfe benötigen, bezahlt die Krankenkasse die Auslagen, aber was geschieht danach? Nicht alle haben Angehörige, die einspringen können. Nicht alle können sich private BetreuerInnen leisten.
Was alles zu tun wäre
Wir, einige Mitglieder der Gruppe «Wohnen UND Leben» und zwei weitere Interessierte, wurden empfangen von Heidi Kaspar, der Co-Leiterin des Forschungsteams CareComLabs (siehe Kasten) und Anita Schürch, als Mitglied des Forschungsteams eher an der «Front» tätig.
In der Vorstellungsrunde fielen Sätze wie: «Wir sollten von einem Nebeneinander zu einem Miteinander und sogar zu einem Füreinander kommen.» «Community first ist ein Riesenthema für die Zukunft.» «Wenn wir dem demografischen Wandel Rechnung tragen, ist Beziehungspflege nicht nur ‹nice to have›, sondern eine Notwendigkeit.»
CareComLabs
CareComLabs ist ein vom Nationalfonds gefördertes Projekt (2019-2022) mit vier Pilotgemeinden in der Deutschschweiz. Die Projektbezeichnung CareComLabs leitet sich ab von Caring Community = Sorgende Gemeinschaft und Living Lab = Alltagslabor. Ziel war, innovative Modelle Sorgender Gemeinschaften zu entwickeln und zu testen. Erfahrungen flossen in die Toolbox «Bausteine Sorgende Gemeinschaft» ein.
Unangemessenes Interesse?
Vielleicht haben wir in der Kindheit gehört, dass wir nicht so neugierig sein sollten, dass unser Interesse für andere Menschen unangemessen sei, dass uns dies und jenes gar nichts angehe und sich sowieso jede und jeder um seinen eigenen Kram kümmern solle.
Und jetzt sollen wir zu einer sorgenden Gemeinschaft werden, aufeinander achten, Anteil nehmen am Schicksal von Menschen, mit denen wir weder familiär verbunden sind noch beruflich zu tun haben? Wir sollen einander sogar unterstützen?
Es gibt vielerorts Häuser, Quartiere und Gemeinden, wo das bereits geschieht. Das ist erfreulich, aber viele Menschen leben aneinander vorbei. Einige tun das bewusst, andere leiden darunter.
Das Forschungsprojekt hatte zum Ziel herauszufinden, wie in der Gesellschaft ein Umdenken gefördert werden kann.
Darauf sollten wir bauen
Anita Schürch erläuterte uns die Grundsätze, die für alle Beispiele von Sorgenden Gemeinschaften gelten:
Lokalbezug: Jedes Projekt ist anders. Eine Herangehensweise ohne fixe Vorstellungen ist Voraussetzung für den Erfolg.
Von bestehenden Strukturen ausgehen, also kein «Start auf der grünen Wiese». Die Spitex ist immer wieder eine gute Ansprechpartnerin für den Beginn.
- Teilhabe: Die Konzipierung und Durchführung liegen in der Hand der ortsansässigen Bevölkerung
- Geteilte Verantwortung: Die Last auf viele Schultern verteilen. Verschiedene AkteurInnen müssen zusammen an einen Tisch geholt werden, zum Beispiel Freiwillige, die Kommission für Alterfragen, die Jugendfachstelle, die Sozialpartner, kirchliche Organisationen, Gemeinschaftszentren und Gesundheitspartner wie eben die Spitex.
- Vernetzung: Aufeinander abgestimmte Produkte und Übergänge im Auge behalten.
- Nachhaltigkeit und Fairness: Es geschieht nichts von Wert auf dem Buckel von anderen.
- «Alltagssorge»: Den kleinen Dingen Wert beimessen wie zum Beispiel dem Grüssen.
Sorgende Gemeinde Belp
Erste konkrete Aktionen fanden während dem Corona-Lockdown statt unter dem Motto «Bäup luegt fürenang», zum Beispiel mit einer gemeindeweiten Postkarten-Aktion.Später wurden Interviews durchgeführt zu den Erfahrungen mit dem Annehmen und dem Geben von Hilfe.
An einigen öffentlichen Veranstaltungen ging es darum, weiter zu sensibilisieren und zu einem Umdenken anzuregen. In Workshops wurden konkrete Ideen entwickelt und die Mitwirkungsbereitschaft abgeklärt. Es bildeten sich Arbeitsgruppen.Das Thema «Sorgende Gemeinde» ist nun eines der Legislaturziele des Gemeinderats von Belp. Mit der Bildung eines Fachausschusses folgte die formelle Einbindung in die Gemeindestrukturen.
Susanne Baumgartner, eine Bekannte der Autorin und wohnhaft in Belp, hat vom Projekt Sorgende Gemeinde gehört. Sie findet die Idee, einander im Allgemeinen mehr Aufmerksamkeit zu schenken, sinnvoll.
Sie weiss, dass Informationsveranstaltungen stattfanden, nahm auch die Infotafeln wahr und las Berichte darüber. Sie nahm allerdings an keinem der Anlässe teil, da sie in einem anderen Quartier stattfanden. Sie findet den Zusammenhalt in ihrem Quartier gut und das Netzwerk, das sie pflegt, für den Moment genügend. Sie ist gespannt auf die weitere Entwicklung.
Die Autorin konnte kurz mit Martin Schlapbach, dem Leiter der Abteilung Generationen und Soziales der Gemeinde Belp sprechen. Er ist Mitglied des Ausschusses Sorgende Gemeinde, worin auch die Spitex und die Kirchgemeinden vertreten sind. Es geht jetzt um die Phase «verstetigen» und das bedeutet, dass sich Belp von der Leitung des Forschungsteams emanzipiert und eigene Massnahmen umsetzt. Er erklärt, dass die BewohnerInnen des Quartiers, das für das Pilotprojekt ausgewählt wurde, nicht gerade in Scharen herbeiströmten, um an den Informationsveranstaltungen teilzunehmen. Trotzdem ist er guten Mutes, dass die Inputs auf fruchtbaren Boden gefallen sind.
Er selbst wird bald pensioniert, aber im Frühling wird eine neue Fachstelle gegründet. Da wird Generationenwohnen ein wichtiges Thema sein.
Sorgende Gemeinschaft Münsingen: «Leitsterne»
Hier wurden gleich zu Beginn «Leitsterne» (Leitsätze) formuliert, die Haltungen ausdrücken und damit Orientierung und eine Entwicklungsperspektive schafften. Im Laufe des Prozesses kam eine immer grössere Vielfalt an Organisationen hinzu. Der Fokus verschob sich vom älteren Menschen in Richtung aller Lebensalter, es wurde auf dem aufgebaut, was bereits vorhanden ist, um ressourcenschonend vorzugehen.
Der Verzicht auf digitale Sitzungsformate führte während der Pandemie zu längeren Pausen zwischen einzelnen Treffen.
«Schwamendingen digital»
Hier entschied sich der lokale Sozialrapport für den digitalen Weg zur Gemeinschaftsbildung: Unterstützt durch eine Schulungs- und Austausch-Plattform wurden Digi-Coaches ausgebildet. In Digi-Kafi-Treffs an vier verschiedenen Standorten helfen Freiwillige älteren Menschen bei der Nutzung ihrer digitalen Geräte wie zum Beispiel des Mobiltelefons. Hier wird auch Geselligkeit gepflegt. Mit professioneller Vermittlung und Unterstützung wurden Digi-Tandems gebildet. Die Finanzierung dieses Projekts wurde vom Sozialdepartement der Stadt Zürich auf die nächsten zwei Jahre zugesichert.
Sorgende Gemeinschaft Obfelden
Dieses Projekt hat sich über einen längeren Zeitraum mit einer partizipativen Interviewstudie zu den Bedürfnissen älterer EinwohnerInnen beschäftigt. Jetzt ist beispielsweise ein Kafi-Wägeli in den Quartieren unterwegs. Hier werden Kontakte geknüpft, Informationen geteilt und es kommt zu Gesprächen zum Thema «Sorgende Gemeinschaft».
«MIX AGE»
Die Berner Fachhochschule befasst sich im Moment in Zusammenarbeit mit dem ETH Wohnforum mit dem Projekt «Generationenwohnen in langfristiger Perspektive – von der Intention zur gelebten Umsetzung». Es geht darum herauszufinden, ob und wie sich Erwartungen und Vorstellungen des Wohnens im Verlauf von Wohnprojekten verändern.
In Crissier (VD) wurde zum Beispiel der Versuch unternommen, Betreuung gegen Wohnen zu initiieren. Der Wohnungsmangel für Studierende und die soziale Isolation im Alter sollten damit aufgefangen werden. Das Projekt nennt sich «MIX AGE». In 65 Wohnungen in zwei Häusern wohnen 36 SenorInnen und gleich viele StudentInnen. Eine Référante de maison organisiert die Tandems. Allerdings finden nun Begegnungen lediglich in diesen organisierten Tauschbeziehungen statt.
Erste Erkenntnisse: Die Erwartung, dass Gemeinschaft und gegenseitige Unterstützung gepflegt werden, ist vorhanden. Aber die Umsetzung im gelebten Alltag ist eher bescheiden. Gemeinsam den Garten bewirtschaften, Anlässe organisieren oder sich im Falle von Krankheit, Unfall und Ferien unterstützen sind gängige geleistete Unterstützungen. Konkrete Vorstellungen darüber, wie Betreuung und Pflege organisiert werden sollen, fehlen jedoch meistens.
Die älteren Herrschaften, die sich für solche Wohnprojekte interessieren, sehen die Realisierung offenbar noch in weiter Ferne.
«Papillon» in Linden
Dies ist ein funktionierendes Modell. Hier wohnt seit sechs Jahren eine 5-köpfige Familie mit acht selbständigen SeniorInnen und vier pflegebedürftigen Personen unter einem Dach. Sie nehmen die Mahlzeiten gemeinsam an einem langen Tisch ein. Eine Kita, die Spitex und ein Restaurant gehören dazu. So wirkt diese Gemeinschaft zum Wohl der ganzen Gemeinde.
Die Toolbox «Bausteine Sorgende Gemeinschaft»
Dieses Nachschlagewerk besteht aus vier Bausteinen: Anfreunden, Initiieren, Entwickeln und Verstetigen sowie einer Sammlung von konkreten Umsetzungen. Es ist ein Arbeitsinstrument und enthält demnach kein pfannenfertiges Produkt, sondern Hintergrundwissen und Anregungen sowie Rezepte, die je nach vorhandenen Zutaten verwendet werden und Lust machen aufs Ausprobieren. Was sich bewährt, soll weiterhin in dieser Box geteilt werden.
Grunsätzliches Umdenken nötig
Heidi Kaspar erklärte: Beim Umdenken geht es um eine neue Sorgekultur. Auch sind Brückenangebote wichtig. Über die Spitex werden zwar Pflegeleistungen finanziert, aber nicht die Betreuung, die es braucht, um trotz (chronischer) Krankheit oder eines Unfalls ein selbstständiges Leben zu ermöglichen. Deshalb braucht es ein Netzwerk, das einfach zugänglich und aufeinander abgestimmt ist.
Das Grundverständnis der Teilhabe ist wichtig. Viele möchten nur helfen und nichts annehmen. Die Angewiesenheit aufeinander muss also grundsätzlich akzeptiert werden.
Die Gruppe «Wohnen UND Leben» besucht immer wieder Projekte, die besonders innovative Wohnformen bieten. Der Beitrag dazu findet ihr hier.