
André Lüthi (44)
– In Heiligenschwendi aufgewachsen
– Ausbildung Hotellerie
– Lebt in Heiligenschwendi
– Juniorentrainer FC Hünibach
– Heute Küchenchef und Leiter Mensa Gartenbauschule
– Mitglied Tourismusverein Heiligenschwendi
André Lüthi, welche generationenübergreifende Begegnung hat Sie besonders beeindruckt?
Jakob Graber, ein 90-jähriger Schwendener, begleitete die Arbeiten auf dem Waldlehrpfad rings um den Winterberg. Er hat ein enormes Wissen über die Pflanzen- und Tierwelt in Heiligenschwendi, das er gerne weitergibt.
Was macht Lebensqualität hier für Sie aus?
Wir haben alles, was man sich nur wünschen kann – eine wunderbare Lage, der See mit öffentlichen Bademöglichkeiten, im Winter die Skigebiete vor der Haustüre. Es gibt viele gepflegte Wanderwege, ein Hallenbad, öffentliche Grillstellen und die Stadt Thun ist nahe.
Welchen Beitrag leisten die Gemeinden?
Die Gemeinden tragen sehr viel zur Lebensqualität bei – mit Festen und Anlässen für die Bevölkerung, mit Brätlistellen zum Mieten, mit Unterhaltsarbeiten an Wegen, der Pflege von öffentlichen Plätzen, sie mähen sogar Wiesen. Damit liefern sie gleichzeitig die Infrastruktur für einen attraktiven Tourismus. Die Gemeinden unterstützen auch Vereine und bieten Hand für Lösungen. Der FC Hünibach beispielsweise wird sehr unterstützt. Natürlich ist ein gesundes Mittelmass nötig, damit die Finanzen nicht überborden. Hinzu kommen zahlreiche kulturelle Angebote und Räume, die für alle zugänglich sind wie das Klösterli, die Riderbachhalle, oder der Kulturpavillon Hünegg.

Was könnte die Gemeinde unternehmen, um die Lebensqualität ihrer BewohnerInnen noch zu steigern?
Aus meiner Sicht finden Kinder, Jugendliche und Familien ganzjährig ausreichend, oft sogar zu viele Angebote. Im Winter verbringen viele EinwohnerInnen ihre Zeit auf den Skipisten und haben manchmal sogar eine Zweitwohnung in einem Skiort.
Möglicherweise gibt es, vor allem im Winter, für die ältere Generation zu wenig Infrastruktur und Begegnungsmöglichkeiten. Wer nicht vereinsaktiv ist oder die zahlreichen Angebote der Kirchgemeinde nutzt, kann in dieser Saison vereinsamen. Im Gemeindeverband gäbe es genügend Räumlichkeiten, um auch im Winter mehr Begegnung zu ermöglichen.
Wo halten Sie sich in Ihrer Gemeinde besonders gerne auf?
Als Juniorentrainer verbringen ich natürlich sehr viel Freizeit auf dem Fussballplatz in Hünibach. Im Sommer geniesse ich die Ländtewiese und die Hüneggkurve. Ganz besonders schätze ich die Ruhe und die Natur in Heiligenschwendi, weil ich dort sehr gut abschalten kann. Ich bin auf den Wanderwegen unterwegs und oft laufe ich via Cholereschlucht von zuhause runter an den See.

Begegnen sich die Menschen im Gemeindeverband genügend?
Vielleicht kann ich das nicht so gut beurteilen. Als Mensaleiter und Küchenchef der Gartenbauschule, Juniorentrainer beim FC Hünibach und Mitglied in verschiedenen Vereinen habe ich unglaublich viele und intensive soziale Kontakte mit allen Altersgruppen. Irgendwann habe ich dann auch genug und geniesse einfach mein Zuhause und die Ruhe «auf dem Berg» in Schwendi. Freunde und Kollegen treffe ich meistens in Thun, wo es ja genügend gemütliche Restaurants und Clubs gibt – zumindest für meine Altersgruppe.
Mir fällt immer wieder auf, sei dies bei Anlässen der Gartenbauschule oder in den Vereinen, dass es heute sehr schwierig ist, neue InteressentInnen zu finden. Wir betreiben beispielsweise einen unglaublich grossen Aufwand für die Organisation eines Erntefestes, und dann nimmt doch nur die Stammkundschaft teil. Auch in den Vereinen finden sich nur noch schwer neue Mitglieder. Ich denke, es gibt in unserer Zeit eher zu viele Anlässe wie Märkte, Festivals, Sportveranstaltungen und die Menschen entscheiden sehr kurzfristig, wo sie teilnehmen.
Für Vereine und Gemeinden ist es in der digitalen Welt eine Herausforderung, alle Aktivitäten auch zu kommunizieren. Und wie können sie die Alten abholen? Die Jungen tauschen sich über Social Media aus und wissen jederzeit, was wo läuft. Aber wo erhalten die Alten diese Informationen, die ja tagtäglich gestreut werden? Früher gab es dafür die lokale «Buschtrommel», man traf sich in der Chäsi oder am Gartenzaun und hat sich ausgetauscht. Heute müssen wir zwingend digital unterwegs sein, um jederzeit informiert zu bleiben.

Wer Begegnung sucht, hat grundsätzlich genug Möglichkeiten. Im Hintergrund braucht es aber Freiwillige, die alles organisieren und durchführen. Gerade im Fussballclub suchen wir immer TrainerInnen oder FunktionärInnen – das ist Knochenarbeit. Wir leben in einer Gesellschaft, wo sich immer weniger Menschen verbindlich engagieren wollen. Eine grosse Mehrheit will konsumieren, möchte das Leben frei gestalten und ist nicht zu einem Engagement bereit.
«Wir leben in einer Gesellschaft, wo sich immer weniger Menschen verbindlich engagieren wollen. Die grosse Mehrheit will konsumieren, möchte das Leben frei gestalten und ist nicht zu einem Engagement bereit.»
André Lüthi
Neben dieser zunehmenden Unverbindlichkeit erlebe ich tagtäglich auch Positives in der Wohngemeinde und in den verschiedenen Vereinen. In Heiligenschwendi helfen viele Ehrenamtliche aus allen Altersgruppen und Gesellschaftsschichten beim Weihnachtsmarkt und anderen Dorfveranstaltungen – viele BewohnerInnen sind involviert und arbeiten zusammen. Ich denke, in Heiligenschwendi ist die Dorf-Identität, sind Jahresrituale wohl stärker ausgeprägt als in den See-Gemeinden – man kennt sich hier oben noch persönlich.
Aber auch hier oben ist Nachbarschaft kein Garant für Zusammenhalt. Das gemeinsame Tun in den Vereinen, die gemeinsame Schulzeit und gemeinsame Erlebnisse schaffen langjährige Beziehungen und Vertrauen. In solchen Gruppen schauen die Menschen auch zueinander, wenn jemand Hilfe braucht. Zusammen leben heisst auch zusammen tun – das verbindet. Aber nicht alle Menschen möchten teilnehmen, oder nur punktuell und wenn sie profitieren können.

Das Vereinsleben ist wichtig für das Ganze der Gesellschaft, für den Zusammenhalt. Das erlebe ich im Schützenverein und im Fussballclub. Hier sind selbstverständlich alle Generationen vertreten. Das Alter spielt dann eigentlich gar keine Rolle. Unser Fest «Schwendi (be)lebt» vom letzten Jahr ist ein wunderbares Beispiel für das Generationen-Miteinander. Die Bevölkerung und alte «Heimweh-Schwändener», die hier die Schule besucht haben, trafen sich zum Dorffest mit Gewerbeausstellung und Vereinsständen. Unsere gemeinsame Geschichte prägt und schafft Identität.
«Das Vereinsleben ist wichtig für den Zusammenhalt der Gesellschaft. Hier sind alle Generationen vertreten und das Alter spielt dann gar keine Rolle – wir lernen voneinander, wir leben das Generationen-Miteinander.»
André Lüthi
Wo gibt es zwischen den Generationen Missverständnisse oder gar Konflikte?
Das Leben verändert sich laufend und immer schneller und Wertekonflikte zwischen den Generationen sind vorprogrammiert. Die ältere Generation sieht oft nicht ein, dass Altbewährtes auch einmal neu angepackt werden kann. Wir stellen das sogar im Fussball fest – Trainingsformen, sogar Spielregeln entwickeln sich. Und damit tun sich die «alten Hasen» manchmal schwer. Wenn ich erkläre, weshalb etwas neu und anders gemacht wird, erfahre ich auch Akzeptanz und ich nehme Impulse der Älteren auch gerne entgegen und setze sie um. Vielleicht sind alte Menschen per se etwas komplizierter und weniger einsichtig – das fordert von der jungen Generation Geduld und Gesprächsbereitschaft.
Als Fussball-Trainer muss ich Regeln auch gegenüber der ganz jungen Generation durchsetzen – auch das ist eine Herausforderung und verlangt Offenheit für andere Einstellungen.
Gibt es ein Gleichgewicht unter den Generationen?
Im Vereinsleben begegnen wir uns auf Augenhöhe und mit Respekt – so funktioniert das gemeinsame Tun. Es ist immer ein Geben und ein Nehmen und insgesamt entstehen wenig Konflikte. Im Verein zählt die Erfahrung der Älteren. Aber viele von ihnen wagen sich nach der Pensionierung nicht mehr, ihr Wissen und ihre Kompetenzen einzubringen, so mit der inneren Haltung «die Jungen wissen eh alles besser, was soll ich da noch?». Dabei sind gerade auch sie in den Vereinen willkommen. Warum nicht mal einen Schnupperbesuch in einem Verein machen?
«Viele pensionierte Menschen wagen sich nach der Pensionierung nicht mehr, ihr Wissen und ihre Kompetenzen einzubringen, so mit der inneren Haltung «die Jungen wissen eh alles besser, was soll ich da noch?». Dabei sind gerade auch sie in den Vereinen willkommen.»
André Lüthi
Können die BewohnerInnen ihre Anliegen und Ideen im Gemeindeverband ausreichend einbringen?
Davon bin ich überzeugt, aber es bedingt, dass jemand sich «opfert» und irgendwo eine Funktion oder ein Amt in der Politik, einem Verein oder in einem Vorstand übernimmt. Dort kann jedeR seine Inputs und Wünsche direkt äussern. Als Mitglied im Tourismusverein Heiligenschwendi habe ich regelmässig Kontakt zu einem Gemeindevertreter, der die Anliegen jeweils an den Gemeinderat weiterleitet. Im FC Hünibach gibt es via Präsident einen direkten Dialog mit der Gemeinde. Als Individuum ist es nicht so einfach, an einer Gemeindeversammlung Gehör zu finden. Aber mit einem Netzwerk können Ideen eingebracht werden.
Mir persönlich fehlt also nichts – ich verfüge dank Beruf und Vereinsengagement über ein grosses Netzwerk und kenne die Kommunikationswege im Gemeindeverband. Alte oder ganz junge berufstätige Menschen haben es hier wohl schwieriger. Es wäre natürlich ideal, im Gemeindeverband einen Obmann oder eine Obfrau zu haben mit einem offenen Ohr für die Anliegen der EinwohnerInnen. Diese Person würde sich damit direkt an die Gemeindebehörden wenden, eine Antwort erhalten und zurückmelden – quasi eine Scharnierfunktion zwischen Dorf und Verwaltung wahrnehmen.
Jede Generation hat ihre Kompetenzen, werden diese genügend – zum Vorteil aller – genutzt?
Die Kompetenzen werden viel zu wenig abgeholt, weil sie oft gar nicht bekannt sind. Im Beruf oder als Fussballtrainier ist es für mich eine Selbstverständlichkeit, Kompetenzen abzuholen. Für ein Musikfest beispielsweise holt man gerne Menschen in die OK’s, die früher in diesem Bereich gearbeitet haben und über viel Erfahrung verfügen. Sicher hätten nach der Pensionierung einige Menschen ein Interesse an einem solchen Engagement, aber wir kennen uns im gesamten Gemeindeverband zu wenig, besonders wenn jemand nie vereinsaktiv war. Die Gemeinden könnten hier unterstützen, indem sie in den Dorfzeitungen Portraits bringen oder online ein «schwarzes Brett» bereitstellen, wo Angebote und Anfragen ausgetauscht werden können.
Und was wünschen Sie sich von den anderen Generationen?
Mehr Verständnis, mehr Akzeptanz und ein Austausch auf Augenhöhe. Aber vielleicht ist das falsche Erwartung – vielleicht können das die Jungen noch gar nicht – Reifung und Werteentwicklung gehören zum Leben, auch das soziale Bewusstsein wächst erst mit den Lebensjahren. Es ist also schwierig, Generationenakzeptanz zu fordern.

Was ist Ihre kühnste Hoffnung an ein Generationenleitbild?
Das Gemeinsame, das Verbindende rückt deutlich mehr ins Zentrum des Zusammenlebens. Eine «Tochergesellschaft» des Gemeindeverbandes würde unter dem Motto «Wir alle gemeinsam» Anlässe, Märkte und Feste für Alle planen. Oder es entsteht ein neues Gemeindegremium «Leben und leben lassen», das im Auftrag der Gemeinden alle Generationen und Schichten einbezieht. Dieses trifft sich regelmässig und initiiert unterschiedlichste soziale Anlässe. Um die ganze Bevölkerung anzusprechen, braucht es mehr als Information – es braucht persönliche Kontakte, um Menschen abzuholen und zu integrieren.
Welche Interviewfrage wurde Ihnen noch nicht gestellt?
Wie gehen wir als Gesellschaft mit unserer Zeit um? Zeit ist ein knappes Gut, die Zeit fürs Zusammensein schrumpft immer mehr. Wer nimmt sich noch Zeit – für seine Mitmenschen? Meist sind es jene, die eigentlich schon eine übervolle Agenda haben und die sich doch immer wieder für die Gemeinschaft engagieren. Sie wissen, worum es geht, wenn wir uns als Gesellschaft in eine gute Richtung weiterentwickeln wollen, wenn wir im Dialog bleiben und Begegnung pflegen wollen.
Ab und zu wünsche ich mir mehr Zeit und Raum für meine persönlichen Hobbys und meinen Freundeskreis – irgendwann wird es an der Zeit sein!
Generationenleitbild «zäme redä, zäme läbe» in Hilterfingen, Oberhofen und Heiligenschwendi
Viele Gemeinden haben Altersleitbilder. Diese sind oft in die Jahre gekommen und setzen sich mit den älteren Generationen auseinander. Solche Leitbilder definieren die Alterspolitik einer Gemeinde. Also bestimmte Massnahmen die älteren Menschen ein selbstbestimmtes Leben mit hoher Qualität ermöglichen. Viele Gemeinden denken nun neu und wollen Generationenleitbilder erarbeiten. Die Menschen aller Generationen sind im Blick.
UND Generationentandem begleitet zwischen Juni 2022 und Dezember 2023 den Gemeindeverband Hilterfingen, Oberhofen und Heiligenschwendi auf dem Weg zum Generationenleitbild. Im Fokus steht der Prozess und das Miteinander. Eine Spurgruppe mit offiziellen VertreterInnen aus allen drei Gemeinden und aus der Bevölkerung erarbeitet das offizielle Leitbild. Am Freitag, 31. März 2022 laden die drei Gemeinden zum Mitmach-Anlass «zäme redä, zäme läbe» ein.
Für das Generationenleitbild führt UND Generationentandem Interviews mit Menschen aus den drei Gemeinden. Alle Interviews und Beiträge zu «zäme redä, zäme läbe»: hier.
