
Am 9. April 2025 fand im Offenen Höchhus in Steffisburg ein einmaliger Anlass statt: eine Lesung mit der Gerontologin Ruth Gygax, moderiert von Annemarie Voss. Es wurde nicht einfach vorgelesen und danach diskutiert – vielmehr verschränkten sich literarische Passagen und persönliche Reflexionen auf eindrückliche Weise. Ein Nachmittag, der nachhallte.
Im Zentrum des Buchs «Nicht fragen, bitte», aus dem Ruth Gygax an diesem Nachmittag vorlas, steht Johanna, eine ältere Frau mit Alzheimer. Die Figur basiert auf einer realen Person, wurde jedoch verfremdet, um ihre Identität zu schützen. Johanna lebt noch zu Hause, wird aber von einem Betreuungsteam begleitet. An ihrer Seite: Eva, eine junge Betreuerin ohne Papiere, die mit Feingefühl, Humor und spontaner Intuition reagiert.
Eines Tages steht Johanna plötzlich reisefertig im Korridor – zwei grosse Koffer neben sich. «Theo holt mich ab», erklärt sie. Theo war ihr Bruder. Er ist seit 25 Jahren tot. Doch in Johannas Realität ist er auf dem Weg, um sie nach Hause zu bringen.
Eva bleibt ruhig, bietet Tee an, ruft diskret Vera, eine Freundin der Familie. Niemand lacht über Johanna. Niemand stellt sie bloss. Stattdessen wird gemeinsam Tee getrunken. Ein paar Tage später werden die Koffer wieder von Johanna selbst auf den Dachboden gebracht – kommentarlos, wie sie aufgetaucht sind.

«Nicht fragen, bitte!» – über das Leben mit Demenz
Zwischen den literarischen Passagen kommentiert Ruth Gygax, was im Alltag oft übersehen wird. Sie hat jahrzehntelang Menschen mit Demenz begleitet – und sie mochte sie, wie sie mehrfach betont. Demenz sei nicht nur Verlust, sondern auch eine eigene Form von Wirklichkeit. «Wenn jemand sagt, es schneit, obwohl draussen die Sonne scheint – dann ist es in dem Moment seine Wahrheit.» Anstatt zu korrigieren, sei es hilfreicher, mitzuschauen, mitzugehen. Das bedeute nicht, Illusionen zu fördern, sondern Vertrauen zu wahren.
«Wenn jemand sagt, es schneit, obwohl draussen die Sonne scheint – dann ist es in dem Moment seine Wahrheit.»
Ruth Gygax
Ein weiteres Beispiel aus dem Buch: Johanna spricht mit ihrem Spiegelbild. Für sie ist es ein Gegenüber. Eva greift das auf – hält ihre Hand, beruhigt sie. Kein Erklären, kein Korrigieren. Einfach da sein.
Humor, Musik, Biografie – kleine Schlüssel mit grosser Wirkung
Ruth Gygax – aber auch die Zuhörer:innen – bringen zahlreiche konkrete Beispiele aus ihrem Umfeld ein: teils anrührend, teils heiter. Etwa von einem Mädchen aus Osteuropa, das nichts über Demenz wusste, aber intuitiv richtig reagierte. Oder von einem Mann, der seine Gitarre mit ins Heim brachte – und mit einem einzigen Lied eine Gruppe scheinbar apathischer Bewohner:innen zum Mitsingen bewegte.
«Musik wirkt Wunder», sagt Ruth Gygax. Und Humor. Und Bewegung. «Lieben, Lachen, Lernen, Laufen» – das seien vier einfache, aber wirksame Schutzfaktoren, die auch präventiv wirken können.
Besonders betont sie die Bedeutung von Biografiearbeit: «Wer weiss, woher jemand kommt, was er geliebt hat, kann mit diesen Fäden viel bewirken.» Ein Stück Brot aus Kindheitstagen. Ein Dialekt. Ein Geruch. All das könne Türen öffnen, wenn Worte längst fehlen.

Zuhause oder Heim? Eine schwere Entscheidung
Ruth Gygax spart schwierige Themen nicht aus. Sie spricht offen über den Moment, in dem Angehörige erkennen müssen, dass die Pflege zu Hause nicht mehr möglich ist. Besonders bei Ehepaaren sei es oft belastend: 24 Stunden am Tag gemeinsam – aber in völlig verschiedenen Welten. «Es ist kein Verrat, jemanden in gute Hände zu geben», sagt sie. «Es kann ein Akt von Liebe sein.» Gerade in Institutionen gebe es oft mehr emotionale Entlastung – auch wenn der Schritt dorthin schwerfällt.
«Es ist kein Verrat, jemanden in gute Hände zu geben.»
Ruth Gygax
Ein leiser Schluss – mit einer starken Botschaft
Zum Ende des Abends zitiert Gygax erneut aus ihrer Geschichte: Die Koffer sind verschwunden, Theo wird nicht mehr erwähnt. Im Badezimmer liegen zehn Zahnbürsten – täglich neu bereitgestellt von der Spitex, weil Johanna sie abends immer einpackt. Der Buchhalter fragt, ob das eine Fehlbuchung sei. Das Team lacht – und kauft für Johanna eine Schokolade.
Und dann sagt Ruth Gygax jenen Satz, der den Abend auf den Punkt bringt: «Ich hatte 30 Jahre mit Menschen mit Demenz zu tun. Ich mochte sie sehr. Und das reicht. Man muss sie nicht lieben – aber man muss sie mögen.»