Podium zum Nachschauen und Nachhören
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Und plötzlich sind über 80 Menschen im Stadtratsaal im Thuner Rathaus…
Am 25. Januar 2023 fand im Thuner Stadtratsaal die Podiumsdiskussion des Generationenforums «Unbezahlte Arbeit – Who cares?» statt. Der grosse Andrang beweist: Das Thema bewegt.
Wirtschaft ist Care
In einem prägnanten, engagierten Kurzvortrag führte Ina Praetorius (66) in das Thema ein. Als Begründerin des Think Tank «Wirtschaft ist Care» zeigte sie auf, dass Wirtschaft schon von ihrer Aufgabe her grundsätzlich Care bedeutet. Denn Wirtschaft werde definiert als «Gesamtheit der Mittel zur Abdeckung menschlicher Bedürfnisse». Leider würden allerdings oft fragwürdige Bedürfnisse abgedeckt, die zuerst überhaupt geschaffen werden müssen. Wirkliche Bedürfnisse seien aber gemäss Forschung vor allem jene nach guten Beziehungen.
Im anschliessenden Podium, moderiert von Tabea Keller (23), nahmen drei weitere engagierte Persönlichkeiten teil: Sarah Schilliger (43), Mutter und Soziologin am interdisziplinären Zentrum für Geschlechterforschung an der Uni Bern, Roman Wyler (39), Vater, Hausmann, Tanzlehrer und Linda Hadorn (41), Mutter und Ressortleiterin Pflege und Alltagsgestaltung zweier Altersheime. Alle vier berichteten aus ihrer jeweiligen Care-Perspektive und gaben so vielseitige Einblicke in ihren Familienalltag, ihr politisches Engagement, ihre berufliche und wissenschaftliche Tätigkeit.
Care-Arbeit muss sichtbar werden
Was ist gemeint mit dem Wort «Care»? Oft spricht man von Freiwilligenarbeit. Diese gibt es auch, doch sie bildet einen kleinen Teil des gesamten Bereichs. Wenn die Mutter zum Säugling eilt, tut sie es nicht immer freiwillig. Besser sprechen wir von unbezahlter Arbeit. Sie wird häufiger geleistet als bezahlte Arbeit, sie ist für die Gesellschaft «systemrelevant». Es ist unverständlich, dass sie in den Lehrbüchern der Ökonomen gar nicht vorkommt.
Auch unbezahlte Arbeit wird oft gerne geleistet. Eltern lieben ihre Kinder, Grosseltern ihre Enkel und Enkelinnen. Roman Wyler zum Beispiel sieht sich in einer privilegierten Situation: Die Care-Arbeit daheim kann er mit der Partnerin teilen und die Tanzschule abends gibt ihm sowohl Lohn als auch Befriedigung.
Als Mann finde er auch Anerkennung, wenn er für andere koche oder für seine Kinder da sei. Bei Frauen sei das leider oft nicht so. Sarah Schilliger unterstreicht es: Care-Arbeit braucht Anerkennung, der Dienst der Grossmutter darf nicht selbstverständlich sein, freiwillige Arbeit ist nicht nur Liebesdienst. Gerade der emotionale Anteil der Care-Arbeit muss viel mehr beachtet werden. Eine zentrale Frage ist natürlich die finanzielle Grundlage: Alles Engagement setzt voraus, dass man davon leben kann.
Perspektiven für die Zukunft
«Gibt es in dieser Frage Unterschiede nach Generationen?», fragt die Moderatorin Tabea Keller (23) ind die Runde. Viele junge Paare bleiben beim klassischen Rollenschema, sagt dazu Linda Hadorn, doch das Bewusstsein habe sich verändert. Die Paare teilen ihre Cararbeit bewusster auf. Allerdings gelte Karriere auch bei der jungen Generation immer noch als hoher Wert. Hausarbeit werde deshalb oft auch ausgelagert an Grosseltern, an die Kita.
Hier zeige sich, wie Berufsarbeit immer noch höher gewertet wird als Care-Arbeit. Zukunftstaugliche Projekte, welche Care-Arbeit aufwerten können, gibt es übrigens schon: Architekten bauen gemeinschaftsfähige Immobilien, die gegenseitiges Aushelfen fördern. Stadtplaner versuchen, die Distanzen der Wohnhäuser zu den notwendigen Geschäften zu verkleinern. Bereits gibt es als Experiment Wohnungen ohne Küche als Beitrag, die Hausarbeit zu entlasten.
«Was würden sich die Podiums-TeilnehmerInnnen für ihre Care-Arbeit wünschen?», fragt schliesslich die Moderatorin. An Ideen fehlt es nicht.
Ideal wäre bestimmt, wenn alle ihre Arbeit auch als echtes Leben empfinden könnten. Jedenfalls müsse die Care-Arbeit sichtbar werden und Anerkennung finden. Der finanzielle Druck, Geld zu generieren, sollte wegfallen. Das bedingungslose Grundeinkommen könnte ein Weg dazu sein. Geld muss durch eine gerechte Steuerreform zugunsten der Care-Arbeit umverteilt werden. Das Bruttoinlandprodukt ausschliesslich an finanziellen Werten zu messen, ist realitätsfremd. Ansätze zur Umsetzung seien zwar schon vorhanden, unterstreicht Ina Praetorius. Nichts aber gehe ohne eine Änderung des Bewusstseins. Männer müssen aufhören, sich für Care-Arbeit zu schämen. Care-Arbeit muss durch angemessene Entlöhnung als wesentlicher Teil des gesellschaftlichen Lebens Anerkennung finden.
Ein Workshop am Anschluss
Im Unterschied zum letzten Forum fand der zugehörige Workshop am Tag nach dem Podium statt. Das gestattete der kleinen Gruppe, das am Vortag Gehörte auf persönliche Weise zu vertiefen.
Auch diesmal war Ina Praetorius dabei und führte in die vier Themenbereiche ein, zuerst mit einem kleinen Film, dann mit erläuternden Worten.
An vier Tischen wurde dann über die vier Themen diskutiert: Lernen und Bildung, Haushalt und Konsum, Care als Arbeit, Ich und Care. Der kleine Rahmen erlaubte eine auf das eigene Erleben fokussierte Behandlung der vier Themen.
Verschiedene Ideen kamen zur Sprache, wie dem Anliegen der Care-Arbeit konkret entsprochen werden könnte. Doch grundsätzlich wurde klar: Jede Lösung setzt voraus, dass wir umdenken lernen, weg von der überwiegenden Ich-Mentalität hin zum Bewusstsein, dass wir alle voneinander abhängig und füreinander verantwortlich sind. Neben dem bedingungslosen Grundeinkommen, das auch hier Zustimmung fand, wurde unter anderem der Vorschlag gemacht, jedem Kind solle bei seiner Geburt ein Ausbildungsbeitrag zugesprochen werden, den er oder sie zu geeigneter Zeit einsetzen könnte.
Ein paar ergänzende Kommentare aus dem Publikum
Relevant für die Menschlichkeit
Kommentar von Estelle Battaglia (18)
Care-Arbeit – was ist das? Darüber habe ich mir auch nicht viele Gedanken gemacht. Klar, ich arbeite zu Hause im Haushalt mit, aber ich muss (noch) keine Kinder betreuen oder Eltern pflegen. Doch Care-Arbeit ist nicht privat, sie ist gesamtgesellschaftlich präsent, oft aber leider unsichtbar, obwohl sie das Fundament unserer Gesellschaft bildet.
Im Laufe des Podiums wird klar, dass Care Arbeit nicht nur politisch und wirtschaftlich relevant ist, sondern auch auf einer ganz grundsätzlichen Ebene: die der Menschlichkeit. Care bedeutet sich sorgen, kümmern – um ein Kind, ein Elternteil oder auch einem gesunden Menschen, der Bedarf nach einem offenen Ohr hat. Diese Menschlichkeit zu entfernen, durch die Illusion, dass man Care Arbeit erkaufen kann oder gar selbstständig ist, das schädigt sie und alle in der Gesellschaft, da alle einmal auf Care angewiesen sind.
AkteurInnen, die am Talk anwesend waren, sehen Care-Arbeit als eine zeitintensive Tätigkeit, welche nicht für Erwerbstätigkeit benutzt werden kann. Deshalb ist auch das Sprichwort «Zeit ist Geld» in diesem Fall anwendbar. Entlohnung oder Entlastung sollte das langfristige Ziel sein, doch in erster Linie ist Sichtbarkeit wichtig. So kann Bewusstsein entstehen und auch der intersektionale Aspekt mit Feminismus verfolgt werden.