Anna Luterbacher: Ein Kreis schliesst sich. Vor 30 Jahren hast du, Irène, mit mir im Universitätsspital Zürich ein Interview geführt. Du warst die «Leiterin Ver- und Entsorgung», ich «Oberschwester». Kurze Zeit später hast du deine Karriere als Hüttenwartin begonnen und zusammen mit deinem Mann Pius Fähndrich 27 Jahre lang die Lidernenhütte im Riemenstaldental geführt. Und nun beginnt für dich ein neuer Lebensabschnitt. Weil ihr nach reiflicher Überlegung Ende April 2020 die Hütte an neue Hüttenwarte übergeben habt.
Das Familienleben war der zentrale Punkt. Es war uns wichtig, dass es für die Kinder auch stimmig war.
Irène Kamer
UND Generationentandem: Was war dein Erfolgsrezept, dass du die Hälfte deines Lebens dem Hüttenwart-Sein widmen konntest? Wie hast du es geschafft, eine fünfköpfige Familie und deinen speziellen Beruf unter einen Hut zu bringen?
Irène Kamer: Pius und ich arbeiteten mit viel Freude. Wir passten uns neuen Gegebenheiten stets an. Wir hatten nicht unbedingt einen fixen Zeitplan oder ein Konzept im Kopf. Das Familienleben war der zentrale Punkt. Es war uns wichtig, dass es für die Kinder auch stimmig war. Als Anna, unsere älteste Tochter, in den Kindergarten kam, änderten sich die Strukturen. Ein Elternteil musste zu Hause sein, der andere blieb in der Hütte. Als später Elmar und Martin dazu kamen und die Kinder grösser wurden, hatten wir Grossmütter und Verwandte, welche zu unseren Kindern schauten, wenn wir in der Hütte arbeiteten. Während der Schulzeit waren wir als ganze Familie vom Freitag bis am Sonntag in der Hütte. Die Kinder erlebten ein freies Leben und wuchsen in gewissem Sinne in einer «heilen Welt» auf. Dank ihrer eher spärlichen Spielkiste waren sie gezwungen, kreativ zu sein. Die praktische Arbeit und der Kontakt mit den Leuten bereiteten ihnen Spass. Die Pubertät war besonders für Anna nicht einfach, oftmals schämte sie sich wegen des Lebens, welches wir führten. Wir wussten, dass wir die Kinder nicht zum Hüttenleben zwingen konnten. Doch sie fühlten sich ernst genommen, und heute sind sie stolz und ebenfalls etwas traurig, dass diese Zeit nun vorbei ist.
Was war deine Motivation, eine SAC-Hütte zu führen?
Pius führte schon vorher eine Hütte. Ich wollte es einfach mal eine Saison lang ausprobieren und schauen, wie es rauskommt. Der Ort gefiel uns sehr und es bot sich eine Gelegenheit, die wir packen wollten, obwohl wir nicht speziell danach suchten. Wir waren auch etwas blauäugig und bewarben uns – als die Lidernenhütte frei wurde – aus dem Bauchgefühl heraus und mit Neugier.
Welchen Unterschied konntest du zwischen heutigen HüttenbesucherInnen und den HüttenbesucherInnen vor 20 Jahren beobachten?
Sie wurden anspruchsvoller. Damals kam niemand auf die Idee, nach einer Dusche, nach «Schnipo», einem Doppelzimmer oder einer Handy-Lademöglichkeit zu fragen. Im Gespräch lässt sich aber vieles klären. Die Gäste begreifen in der Regel schnell, nicht in einem Hotel zu sein. Sie sind aber auch unverbindlicher geworden und reservieren häufig, ohne gross zu überlegen. Ärgerlich wird es nur, wenn sie sich nicht abmelden. Interessant ist, dass sich die Gäste früher weniger um Regeln kümmerten. Sie ignorierten oft die Nachtruhezeit und ein paar wenige tranken einfach weiter. Heute ist für die Leute irgendwie klar, dass es diese Regel einzuhalten gilt.
Worin liegt der Unterschied zwischen einer SAC-Hütte und einem Hotel?
Natürlich steht auch in der SAC-Hütte im Vordergrund, dass sich die Leute wohl fühlen. Das Du-Sagen hat inzwischen Einzug gehalten. Im Gegensatz zum Hotel sind wir auf die Mithilfe unserer Gäste angewiesen. Sie helfen mit, Decken zusammenzulegen, den Tisch abzuräumen oder von der Seilbahn Lebensmittel zur Hütte zu transportieren. In einer SAC-Hütte wird vorwiegend in Matratzenlagern geschlafen, Zimmer gibt es nur in modernen Hütten.
Gibt es ein Erlebnis mit einem Gast, welches dir besonders in Erinnerung geblieben ist?
Anfänglich konnten unsere Gäste auch selber kochen – einen Konsumationszwang gab es nicht. So kochte einmal eine deutsche Gruppe Maultaschen. Wir fanden, dies sehe aber sehr lecker aus, erhielten aber keine Kostprobe. Umso erfreuter waren wir, als sie ein paar Wochen später zurückkamen, den Rucksack gefüllt mit diesen Maultaschen. Eine weniger schöne Erinnerung war, als ein Vater mit seinem Sohn bei garstigem Wetter zu einer Skitour aufbrach. Sie kehrten nicht wie vereinbart zurück, weshalb wir uns sehr sorgten und auch nach ihnen suchten. Wir gingen nicht schlafen und liessen absichtlich das Licht in der Hütte brennen. Mitten in der Nacht waren sie plötzlich zurück und wir servierten ihnen noch eine Suppe. Am nächsten Morgen verschwanden sie kommentarlos und ohne Dank – das fanden wir schade.
Wie würdest du die kulinarischen Grundsätze der Lidernenhütte beschreiben?
Wir kochten so natürlich wie möglich und verwendeten weitgehend Rohprodukte. Ich mahlte das Getreide für unser Vollkornbrot selbst und stellte auch Sauerteig her. Wir kochten, was wir auch selbst gerne hätten essen wollen. Bei vielen Gästen kam es zum Aha-Erlebnis. Wenn ich Risotto mit Vollkornreis oder Bulgur zubereitete, ging die Diskussion an den Tischen los. Was ist denn da wohl drin? Doch die meisten waren positiv überrascht. Anfänglich kultivierten wir einen kleinen Garten, bis die Kühe ihren Gefallen daran fanden… Eine Bereicherung waren speziell die Wildkräuter, welche ich sammelte, oder der Quittenbaum für den Quittengelee. In einem grossen Topf liess ich jeweils Sauerkraut gären.
Welches Gericht wäre aus der Karte nicht wegzudenken gewesen?
Beim Abendessen waren die Älplermagronen besonders beliebt. Unsere selbst hergestellten Glacen wurden zum Hit. Wir verwendeten dazu Vollrahm und beispielsweise frische Beeren. Bei den Gebäcken war unsere ganze Palette sehr gefragt – von der Linzertorte, dem «Schoggikuchen» bis hin zum selbstgebackenen Vollkornbrot.
Wir versuchten stets, so haushälterisch wie möglich mit den Energieressourcen umzugehen.
Irène Kamer
Wie liess sich der Energiehaushalt der Hütte regeln? Konntet Ihr auch erneuerbare Energien nutzen?
Zuerst standen uns lediglich ein Benzingenerator und Holz zur Verfügung. Das Licht funktionierte mit Gas. Wir waren weder im Besitz einer Waschmaschine noch eines Kühlschranks. Später produzierten wir mit Sonnenkollektoren Strom und speicherten diesen in Batterien. So konnten wir schliesslich auch Waschmaschine und Kühlschrank anschaffen. Eindrücklich war, dass wir mit der Heizenergie des Kochherds durch eine Wärmeschlange Boilerwasser aufheizen konnten. Wir versuchten stets, so haushälterisch wie möglich mit den Energieressourcen umzugehen.
War im Umgang mit den erneuerbaren Energien spürbar, dass ein Umdenken im Gang ist?
Ich finde, das Bewusstsein ist allgemein gestiegen. Aber anderseits nahm auch der Verbrauch stetig zu, was wiederum mit den Ansprüchen der Gäste und gewissen Notwendigkeiten bei der Bewirtschaftung einer Hütte zu tun hat. Von Zeit zu Zeit produzierten wir nicht nur mehr Energie, wir benötigten auch immer mehr davon.
Wir waren laufend am Optimieren und Verändern, auch finanziell musste es aufgehen. Ich brauchte diese Herausforderungen.
Irène Kamer
Stichwort Veränderung: Was waren Auslöser dafür, Veränderungen und Anpassungen beim Führen der Hütte vorzunehmen?
Anfangs nahmen wir die Situation mit der Infrastruktur, der Technik und dem Personal so wie sie war und versuchten, das Beste daraus zu machen. Ein Beispiel für eine Anpassung war die Anschaffung einer Waschmaschine vor Ort. Es war der Leidensdruck, die ganze Wäsche immer zu Hause im Tal zu waschen. Dazu brauchten wir Strom. Die Sektion baute eine Fotovoltaikanlage auf dem Dach, sodass wir auch die Gaslampen mit elektrischen 12Volt-Lampen ersetzen konnten. Weiter kauften wir zu Beginn die günstigsten Teigwaren in der Prodega, bis die Qualität für mein Empfinden und meine Philosophie nicht mehr stimmte. Wir entschieden uns, in der Hütte Vollwertprodukte zu verwenden. Natürlich so, dass es geschmacklich für die Gäste stets lecker war. Wir waren laufend am Optimieren und Verändern, auch finanziell musste es aufgehen. Ich brauchte diese Herausforderungen. Wir drängten jahrelang darauf, dass die Hütte umgebaut werden sollte, wozu es dann glücklicherweise auch kam. Es waren also äussere und innere Einflüsse, welche eine Veränderung herbeiführten. Sei es ein Leidensdruck, die Kinder im Schulalter oder besonders auch meine persönliche Philosophie, welche in Einklang gebracht werden mussten.
Wie sieht das Finanzierungsmodell einer SAC-Hütte aus?
HüttenwartInnen pachten die Hütte beim SAC. Die Pflichten bestehen darin, die vorgegebenen Öffnungszeiten zu gewährleisten, die Hütte zu warten und gewisse Reparaturen selber vorzunehmen. Auch der Zugangsweg zur Hütte muss gepflegt werden. Die Art und Weise, wie die Hütte geführt wird, können wir selbst gestalten und prägen. Für die Übernachtungen und die Konsumation muss ein bestimmter Prozentsatz der Einnahmen der Sektion abgegeben werden. Ein Teil davon geht an den Gesamt-SAC. Wir haben nie ein Budget erstellt. Trotzdem ging es finanziell immer mehr oder weniger auf – je nach Schneeverhältnissen und Wetter.
Welche wertvollen Erfahrungen willst du auf deinen zukünftigen Weg mitnehmen?
Ich gehe nun anders auf die Menschen zu. Vor 27 Jahren war ich noch fest mit mir selbst beschäftigt und grenzte mich mehr ab. Mit der Zeit wurde ich offener und trat aus dem Hintergrund hervor. Ich gewann Freude an den vielfältigen Gästen. Ich möchte mich nun auch im Privatleben gut organisieren, denn dies ist sonst eigentlich nicht unbedingt meine Stärke.
Im Jahr 2032 wirst du 67 Jahre alt sein, so alt wie ich (Anna) jetzt. Welche Vision hast du für deinen neuen Lebensabschnitt?
Ich möchte offenbleiben und Dinge tun, die mir Spass machen. Ich möchte Zeit haben für mich, für die Familie, für die Beziehung. Ich möchte kleine Projekte verfolgen Im Moment interessieren mich besonders Bäume, die Vögel und die Wildkräuter – ich will viel in der Natur sein. Die Hütte hat gepasst, sodass ich mir gut vorstellen kann, für eine gewisse Zeit in einer anderen Hütte mitzuarbeiten beziehungsweise bei Bedarf eine Stellvertretung zu machen.
Und zum Schluss: Welchen Tipp würdest du dir geben, wenn du jetzt nochmals starten würdest?
Mit der Zeit merkte ich, dass mich die Leute, welche einfach hereinplatzten und kein Fingerspitzengefühl zeigten, aufregten. Ich begann nervige Leute besonders freundlich mit einer anderen Haltung zu behandeln. Diese Strategie hat sehr gut funktioniert.
Unter www.bergwuerze.ch finden Sie spannende Informationen zu Irènes neuem Wirkungsfeld.