
Qamischli ist eine multiethnische Stadt im Nordosten Syriens, direkt an der Grenze zur Türkei. Jahrzehntelang lebten Christen, Muslime, Juden, Kurden, Araber und zahlreiche ethnische und religiöse Minderheiten friedlich nebeneinander. Kirchen standen neben Moscheen, die koschere Metzgerei lag gleich neben der kurdischen Bäckerei und in den Kleidergeschäften hingen Kippas neben Burkas. Die Mentalität war offen, das Zusammenleben friedlich.
In dieser Stadt lebte Aria mit ihren Eltern und ihren vier Brüdern. Ihr Vater ist gelernter Ingenieur, ihre Mutter Primarschullehrerin. Aria besuchte die Schule bis zur 10. Klasse. Danach wollte sie an die Uni, Medizin studieren. Aber der Krieg kam dazwischen.
Wenn Aria von Qamischli spricht, schwingt Heimweh in ihrer Stimme mit. Der Schmerz über den Verlust ihres alten Lebens ist ihr deutlich anzusehen.
Aria ist klein, hat einen kaffeebraunen Teint und schulterlanges schwarzes Haar. Aus ihren grossen Augen spricht Melancholie und Resignation. Sie hat geschwungene Lippen und ein schönes Lachen, das aber nur selten in Erscheinung tritt.
«Was ich zu Beginn sagen möchte ist, dass alles, was ich sage ”nur” meine Sicht der Dinge, meine Meinung ist. Man darf nicht die Ansichten eines einzelnen verallgemeinern.» ”Man darf nicht” und ”man soll” werde ich während unseres Gespräches noch einige Male zu hören bekommen. Ich vermutete, diese hohe Moral sei religiös bedingt. Doch ich sollte mich täuschen, wie sich später herausstellte.
Als noch niemand an Krieg dachte
Als der Konflikt in Syrien begann, war Aria noch ein Kind. Damals dachte noch niemand an Krieg. Auch Aria nahm mit ihrer Familie an friedlichen Demonstrationen teil. Dann kamen die Bomben. Was zuerst angsteinflössend war, wurde bald Alltag. «Ich weiss noch, einmal während einer Mathematiklektion, schlug eine Bombe ganz in der Nähe der Schule ein» erinnert sich Aria. «Es gab eine riesige Explosion und wir sassen alle wie versteinert auf unseren Plätzen. Der Lehrer aber sagte bloss, wir sollten weiterarbeiten.»
Kein anderes Land ist so oft in den Medien wie Syrien. Eine Schlagzeile jagt die andere: «Bombenhagel auf Aleppo», «Damaskus in Schutt und Asche», «Die Überreste von Homs».
Ermutigt vom «Arabischen Frühling» forderten Syrierinnen und Syrer 2011 in friedlichen Massendemonstrationen mehr Freiheit. Die Antwort des Assad -Regimes auf diese Forderung kam prompt, brutal und vernichtend. Massenverhaftungen und systematische Folter erstickten das Aufbegehren der Bevölkerung. Die Folge war ein blutiger Krieg, der bis heute andauert. Im Verlaufe des Konfliktes bildeten sich verschiedene Gruppen und Untergruppen, die unterschiedliche Ziele verfolgen. Unterstützt werden sie von Grossmächten, die eigene ethno-religiöse, wirtschaftliche und geopolitische Interessen verfolgen. Hunderttausende unschuldige Menschen verloren ihr Leben, Millionen verliessen das Land als Flüchtlinge. Schlichtungsversuche des UNO Sicherheitsrates scheitern regelmässig. Niemand kann sagen, was am Ende von den Traditionen und Kulturen übrig bleibt, die das Land über Jahrhunderte weg geprägt haben.
«Das waren nur Lügen»
Nachdem sich der Konflikt zugespitzt hatte, gingen die Kinder zwar weiterhin zur Schule, ansonsten durften sie die Häuser aber nicht mehr verlassen. In der Schule wurde Assad als der beste, einzige und wahre Präsident und Herrscher Syriens glorifiziert. Das Fach Geschichte beschränkte sich ausschliesslich auf Syrien, Weltgeschichte wurde nicht thematisiert. «Der Gewinner schreibt die Geschichte,» sagt Aria. «Genauso war es bei uns. Wir haben nie gelernt, wie es wirklich war. Über allem lag der Filter der syrischen Perspektive. Deshalb glaube ich gar nicht an das, was ich dort gelernt habe. Das waren nur Lügen.» Sie sieht mich fast trotzig an.
In der Schule wurde Religion unterrichtet, aber nie in radikalisierter Form. Vorbildliche Charaktereigenschaften haben im Islam einen hohen Stellenwert und sind unverzichtbarer Bestandteil des Glaubens und der religiösen Überzeugung. Laut Aria haben die Menschen in Europa durch die Medien ein falsches Bild des Islams vermittelt bekommen. «Ich habe in Europa mehr Extremisten getroffen als in Syrien. Und weisst du, wieso? Wenn man Menschen mit Vorurteilen begegnet, fällt es ihnen schwer, sich zu integrieren. Hinzu kommt, dass die Ausbildung, die sie gemacht haben, hier nichts wert ist. Sie haben alles verloren, sind weit weg von ihrer Heimat, oftmals ohne Familie und Freunde und das einzige, woran sie sich halten können, ist die Religion. Also klammern sie sich daran. Es ist das letzte Stückchen Identität, das ihnen geblieben ist.» In Arias Stimme klingt Vorwurf mit. Und ich kann es ihr nicht verübeln.
«Es ist egal wohin, einfach weg». Eines Tages beschlossen ihre Eltern wegzugehen. Der IS wurde immer stärker und hatte schon grosse Teile des Landes unter Kontrolle. Als Kurden lebten sie in der ständigen Angst, von den Truppen der Gotteskämpfer aufgespürt und getötet zu werden. Der älteste Sohn der Familie war schon vor Ausbruch des Krieges als Medizinstudent nach Deutschland gegangen und hatte beschlossen, gleich dort zu bleiben.
Sie hatten das grosse Glück, dass ihre Tante bereits in der Schweiz lebte. Mit ihrer Hilfe bekamen sie ein Visum und konnten ohne weitere Komplikationen direkt nach Zürich fliegen, von wo aus sie in ein Erstaufnahmezentrum kamen. «Ich hatte keine Erwartungen an die Schweiz. Wenn man flüchtet, ist es egal wohin, einfach weg.»
Ihre Freunde sind inzwischen über die ganze Welt verstreut. Der Krieg hat seine Spuren hinterlassen. Und während Europa einerseits die unantastbaren Menschenrechte hochhält, schickt unser Kontinent andererseits weiterhin Waffen in den Krieg. Welche Doppelmoral! Arias Stimme überschlägt sich fast: «Ohne Waffen gibt es keinen Krieg! Wie würden Menschen einander töten, mit dem Messer? Wohl kaum», sie schnaubt verächtlich. «Ich bin mir sicher, der IS kann keine Waffen herstellen; die Leute sind gar nicht gut genug ausgebildet. Die Schuld liegt bei den Mächten, die diesen Krieg unterstützen und davon profitieren! Die Zivilisten, sie sind die Opfer.»
Zu wenig um die Sprache zu lernen
Nach drei Wochen wurden Aria und ihre Familie nach Saanen geschickt, wo sie ein Jahr lang bleiben mussten. Aria erinnert sich nicht gerne an diese Zeit. Die Familie wurde quasi zwangsisoliert, denn die ihnen zugeteilte Wohnung lag so abgelegen, dass sie nicht einmal Nachbarn hatten. Arias älterer Bruder konnte an der Fachhochschule sein Studium weiterführen, die zwei jüngeren Brüder durften in die Schule gehen.
Aria war zu diesem Zeitpunkt gerade sechzehn geworden. Sie war zu alt für die Schule und zu jung, um zu arbeiten. Sie durfte, laut den Behörden, gar nichts machen. Es war schrecklich deprimierend für sie zu sehen, wie alle rundherum ihr Leben in die Hand nahmen, und sie nichts tun konnte, als zuhause darauf zu warten, älter zu werden. Mit ihren Eltern, die ebenfalls nichts machen konnten ausser Warten, besuchte sie einmal pro Woche einen Deutschkurs. Doch das war zu wenig, um die Sprache gut genug zu lernen. Aus purer Verzweiflung begann sie, sich selber Deutsch beizubringen. Mit YouTube Videos lernte sie deutsche Vokabeln und deutsche Grammatik. Und das ziemlich erfolgreich. Aria hatte ihr Ziel nicht aus den Augen verloren: Medizin studieren.
Als sie dann doch endlich in die Schule gehen durfte, wollte sie nur so schnell wie möglich ins Gymnasium. Mithilfe eines Lehrers holte sie nach, was sie verpasst hatte. «Er war der Einzige, der an mich glaubte. Er sagte mit immer: Aria, ich weiss, dass du es schaffen kannst.»
«Er war der Einzige, der an mich glaubte. Er sagte mir immer: Aria, ich weiss, dass du es schaffen kannst.»
Ehrgeizig und willensstark, wie sie ist, schaffte sie tatsächlich den Übertritt ins Gymnasium. Jetzt ist sie gerade mit dem zweiten Jahr fertig. «Die Menschen in der Schweiz sind sehr selbstbewusst, denn sie werden in der Schule über alles aufgeklärt. Man ist selbständig und bekommt genug Informationen, um sich eine eigene Meinung zu bilden. In Syrien bekommt man die Meinung, nicht die Informationen.» Die Gesellschaft in Syrien sei offener, sagt sie, aber die Moral sei strenger. Respekt gegenüber Lehrern, Eltern und älteren Menschen sei sehr wichtig.
Arias Eltern sind gläubig. Aria selbst – nicht sonderlich. Sie lassen ihr die Freiheit, selber zu entscheiden, ob und an was sie glauben will.
«Muss mich zuhause fühlen können»
Das Asylverfahren in der Schweiz findet Aria gut, die Integration eher weniger. «Wenn man nicht zu Schweizern nach Hause eingeladen wird und ihre gesellschaftlichen Normen und Regeln kennen lernen kann, wie soll man sich dann integrieren?! Meine Eltern kennen die Werte und Normen nur über meine Erzählungen aus der Schule. Man erwartet von Flüchtlingen sich zu integrieren, aber wie soll das gehen ohne Kontakt mit der einheimischen Bevölkerung?» Sie sieht mich an, ohne eine Antwort zu erwarten. Denn die Antwort ist offensichtlich: Integration kann so nicht funktionieren. Nicht nur ihre Eltern, auch sie fühlt sich in der Schweiz nicht zuhause. Immer auf ihren Status als Ausländerin reduziert ist es ihr unmöglich, sich als Teil dieser Gesellschaft zu fühlen. «Ich muss mich zuhause fühlen können, um glücklich zu sein. Deshalb werde ich wohl weggehen.» Wie traurig. So etwas zu hören lässt mich einmal mehr die Einstellung unserer Gesellschaft gegenüber Migranten hinterfragen. Jeder Mensch hat die gleichen Grundbedürfnisse. Dies sind unter anderem Sicherheit, Zugehörigkeit und Akzeptanz. Es kann doch nicht so schwierig sein als Wohlstandsgesellschaft, die alle nötigen Voraussetzungen hat, Menschen ein neues Zuhause zu bieten und ihnen eine Chance zu geben, bei uns einen Neuanfang zu wagen.
Arias Eltern wollen, dass ihre Kinder Kurden heiraten. Da ihre Ethnie kein eigenes Land hat, tragen sie ihre Kultur im Herzen. Verschwindet die Kultur, verschwindet auch die kurdische Identität. Aria liegt die Kultur sehr am Herzen, aber sie will selber entscheiden, wen sie heiraten will und wen nicht. «Wer weiss, vielleicht wird es ja sogar ein Schweizer». Sie lächelt verschmitzt. Dann kehrt der ernste Gesichtsausdruck zurück.
«…weil ich es selber erlebt habe…»
Die einst wohlhabende syrische Familie lebt jetzt viel bedürftiger als früher. Arias Eltern müssen eine neue Ausbildung absolvieren, um arbeiten und Geld verdienen zu können. Geld ist nicht wichtig, aber das, was man damit machen kann, sagt Aria.
Geld – der Antriebsmotor für so Vieles. Syrien ist ein kaputtes Land, die Menschen sind erschöpft. Aber solange Geld im Spiel ist, wird der Konflikt weitergehen.
Wenn in der Schule über Krieg gesprochen wird, langweilen sich alle. Nur Aria hört zu. «…aber schlussendlich nur, weil ich es selber erlebt habe und nicht, weil ich mich speziell dafür interessiere. Wenn man den Krieg nicht erlebt hat, schätzt man den Frieden nicht.» Ist es tatsächlich so? Können wir etwas nur nachvollziehen, wenn wir es selber erlebt haben? Wenn ja, wäre es nicht verwunderlich, dass sich die Geschichte immer und immer wieder wiederholt.
Schlussendlich sei die Schweiz gleich wie jedes andere Land auch, sagt Aria. Sie interessiert sich nur für sich selbst. Du denkst, ich sei pessimistisch? Ich bin realistisch.
Aria wünscht sich nichts für die Zukunft, weil Wünsche ihrer Meinung nach nichts bringen. Sie erhofft sich auch nichts, weil Hoffnung und Realität zwei verschiedene Dinge seien. Aria will nicht noch einmal enttäuscht werden und sie will auch nicht noch einmal etwas verlieren. Was Aria hat, sind (realistische) Ziele. Und die verfolgt sie – mit Ehrgeiz, Wille und einer gesunden Portion Stolz.
Sehr interessant! Danke