
Dr. Curdin Fanconi, Facharzt für Augenheilkunde, führt an bester Lage in der Stadt Bern eine florierende Praxis. Unterstützt wird er dabei von Sandra Zürcher, seiner Praxisassistentin mit Modelfigur.
Dr. Curdin Fanconi gönnt sich einen Espresso aus der neuen Juramaschine. Seufzend lässt er sich auf seinen beigen Ledersessel nieder. «Ach, wäre ich nur Tennisprofi geworden wie Roger Federer», sinniert er. «Der verdient sein Geld wesentlich leichter als ich.» Es klopft an der Tür. Seine Praxisassistentin Sandra steckt ihren Rotschopf zur Tür herein. «Frau Müller hat angerufen. Ihr ist Putzmittel ins Auge gespritzt.». – «Sie soll das Auge spülen und sofort herkommen.»
Sandra verlässt das Behandlungszimmer auf ihren hochhackigen Schuhen. Fanconi kann es sich nicht verkneifen und starrt ihr auf den wohlgeformten Hintern. Ja, er hat ein gutes Auge bewiesen bei der Personalrekrutierung.
Curdin Fanconi geniesst grosses Vertrauen bei seinen PatientInnen. Böse Stimmen munkeln zwar, sein Erfolg sei nicht nur seinem einfühlsamen Wesen und seiner Fachkompetenz zu verdanken, sondern auch seinem blendenden Aussehen: Grau-meliertes Haar, gross gewachsen, sportliche Figur, strahlend weisse Zähne und grüne Augen. Zudem wirkt sein heimeliger und warmer Bündner Dialekt beruhigend auf ängstliche Naturen. Frau Geissbühler, eine fitte Seniorin mit einer trockenen Makula-Degeneration, ist als Nächste an der Reihe. Sie lässt sich langsam auf den Behandlungsstuhl nieder.
«Ach, Herr Doktor, gibt es denn immer noch keine Therapie? Das Zeitunglesen fällt mir immer schwerer.»
«Lassen Sie mich ein Auge auf Ihre Augen werfen!» Fanconi betrachtet durch die Spaltlampe die Netzhaut von Frau Geissbühler. «Das rechte Auge ist noch nicht betroffen. Nehmen Sie bitte weiterhin die Augentropfen nach Schema und melden Sie sich bei einer Sehverschlechterung sofort! Für besseres Lesen können Sie eine Leselupe anschaffen, die von der Krankenkasse bezahlt wird.» Sichtlich beruhigt verabschiedet sich Frau Geissbühler.
«Trotz grosser Verantwortung
ergreift ihn eine tiefe Zufriedenheit mit seinem Beruf.»
Fanconi setzt für einen Moment seine randlose Brille ab und reibt sich die müden Augen. Trotz grosser Verantwortung ergreift ihn eine tiefe Zufriedenheit mit seinem Beruf. Sandra Zürcher klopft an die Tür. «Frau Müller ist da, die Frau mit der Verätzung.» Eine gepflegte Dame mit langen blonden Haaren tritt ein.
Ihr rechtes Auge tränt und ist stark gerötet. Sie kann es wegen des starken Lidkrampfs kaum offenhalten. Fast beschämt begrüsst sie den Augenarzt. «Wissen Sie, so etwas Dummes ist mir noch nie passiert! Ich wollte unbedingt die Duschkabine reinigen, bevor die Kinder von der Schule heimkommen, und da ist mir ein Spritzer ‹Mellerud› ins Auge geraten.»
«Das passiert sehr schnell.» Fanconi ist fasziniert von Frau Müllers gletscherblauen Augen. Zum Glück ist es nur ein kleiner Kratzer auf der Hornhaut.
«Ich gebe Ihnen Augentropfen mit und morgen kommen Sie bitte vorbei für eine Kontrolle.» Frau Müller verlässt erleichtert die Praxis und nimmt sich vor, beim Putzen vorsichtiger zu sein.
So, das wär’s für heute, die letzte Patientin hat die Praxis verlassen. Fanconi verabschiedet sich von Sandra und macht sich auf den Heimweg nach Gerzensee. Dort lebt er mit seiner Frau Iris, seinen Kindern und dem Hund Keratokonus, einem Prachtskerl von einem Irish Setter.

Er hofft auf einen gemütlichen und entspannten Abend mit seinen Liebsten, obwohl er für den Notfalldienst eingeplant ist. Im oberen Kirchenzelg angekommen, wird er von der treuen Hundeseele «Keratokonus» begrüsst.
«Ach, du bist schon da?» Ganz verdreckt küsst ihn seine Frau Iris auf den Mund. Sie trägt noch ihre Fischerhosen und einen Faserpelz. Sie zu sehen, ist das Highlight des Tages. «Wo hast du denn gesteckt?» – «Ach, ich war mit ‹Keri› auf Spurensuche an der Gürbe. Du weisst, nächste Woche muss ich dem Amt für Landschaft und Natur den Bericht zur Population des Fischotters im Kanton Bern abliefern. Gell Keri!» Iris tätschelt dem ausgebildeten Fährtenhund den Kopf.
«Wo sind denn unsere Kinder?», fragt Curdin. «Sie übernachten bei Kollegen, Sophie bei ihrer Freundin und Kaspar beim Nachbarsjungen.»
«Toll, dann sind wir heute für uns! Zwar habe ich heute Notfalldienst», seufzt Curdin. «Aber wer weiss, vielleicht bleibt das Telefon stumm!?»
«Ich geh kurz duschen und dann koche ich uns was Feines», schlägt Iris vor. Dr. Fanconis Magen knurrt und er merkt, dass er im hektischen Praxisalltag das Mittagessen vergessen hat.
Bevor das Nachtessen fertig ist, widmet sich Fanconi seiner grossen Leidenschaft, den Bonsais. Während seines Erasmus-Austauschsemesters in Japan ist er mit dieser Kunst in Berührung gekommen.
Nach dem Essen kuscheln sich Irene und Curdin auf ihr cremeweisses Sofa. Auf dieser Farbe hat Iris bestanden. Er hätte rot-schwarz kariert vorgezogen.
Irene möchte sich gerne einen Film über Fischotter im Kongo anschauen. Sie ist Wildtierbiologin mit Doktorat. Sie kriegt nie genug von diesen herzigen Tierchen. «Ach du mit deinen Fischottern.» Dabei sind sie schuld, dass sie sich kennengelernt haben. Damals vor 15 Jahren, als er an der Gürbe entlang joggte und über eine sympathische Frau mit langen braunen Haaren und tief blauen Augen stolperte. Sie lag bäuchlings am Gewässer und suchte nach Losungen von Fischottern.

Gleichzeitig läuft aber auch der Match Federer gegen Djokovic. Fanconi ist begeisterter Tennisspieler und gerne selber, so oft es seine Zeit erlaubt, auf dem Platz. Am liebsten spielt er mit Frau Dr. jur. Sabine Müller, einer attraktiven Anwältin, wie er Mitglied im Rotary Club und Tennisclub. Dies führt oft zu Diskussionen, denn Iris ist eifersüchtig auf die blonde, langbeinige Susanne. Dazu gibt es überhaupt keinen Anlass. Curdin und Susanne kennen sich aus der Gymnasiumszeit in Chur, und per Zufall ist sie mit ihrer Familie vor einem Jahr nach Gerzensee gezogen.
Plötzlich ertönt die Melodie von «eye of the tiger», Curdins Handy-Klingelton.
«Wohl ein Notfall!» Eine junge, sehr aufgeregte Stimme ertönt. «Mich plagen unerträgliche Schmerzen an beiden Augen. Ich kann sie nicht mehr öffnen und ertrage das Licht kaum. Ich habe schreckliche Angst.» Fanconi versucht die junge Frau zu beruhigen. «Wann können Sie in meiner Praxis sein?»
Iris rollt mit den Augen. «So, das wär’s mit unserem gemütlichen Abend! Schade!»
Curdin nimmt seine Moncler-Jacke vom Haken, den Autoschlüssel vom Sideboard und verabschiedet sich mit einem Kuss von Iris. «Warte nicht auf mich, es kann sehr spät werden!» Gedankenversunken steigt er in seinen Volvo XC90. Trotz 20 Jahren Praxistätigkeit ist er immer noch angespannt. Deshalb hört er gerne «Scandal», eine Rockgruppe aus Japan. Erinnerungen an sein Austauschsemester kommen hoch. Diese Unbekümmertheit, Leichtigkeit. Und die Affäre mit «Jay».

Fanconi parkt seinen Wagen vor der Praxis und erblickt eine junge verängstigte Frau. Die haselnussbraunen Augen sind gerötet und die Augenlider geschwollen. Vor lauter Schmerzen droht sie hinzufallen. Geistesgegenwärtig fängt sie Dr. Fanconi auf. «Herr Doktor, bitte retten Sie mein Augenlicht! Ich sehe nichts mehr!»
Dr. Fanconis fachmännischer Blick erfasst das Problem. «Waren Sie im Gebirge, ohne Sonnenbrille?»
«Ja, auf einer Skitour zum Wildhorn.» – «Ich trage jetzt eine desinfizierende Augensalbe auf und lege einen Verband an. Dazu verordne ich Ihnen ein paar Tage Bettruhe und gebe Ihnen Schmerzmittel mit.» Vor Freude und Erleichterung fällt seine Patientin Fanconi um den Hals. «Vielen Dank, Herr Doktor!»
Ebenso erleichtert fährt Fanconi nach Hause.
Dort trifft er auf eine schlafende Iris im Wohnzimmer und auf einen schnarchenden «Keri».
Müde, aber zufrieden legt er sich schlafen. Im Traum erscheint ihm Jay, seine japanische Studienkollegin mit den schielenden Augen.