Jürg Krebs (74), Livia Thurian (25)
Frau Brändle war nach drei Jahren Fondue, Raclette und Käseschnitten zubereiten so käsig angelaufen, dass sie beschloss, ihr Hotel in eine Therapiestation für Überdrüssige, Überflüssige und Ausgebrannte umzuwandeln. Sie absolvierte einen dreitägigen Kurs in Mantrajodeln, räucherte den Käsegestank aus ihrem «Hotel am Waldrand» aus und nannte es neu «Therapiehotel Waldbrand». Sie kaufte eine Kiste feurigen Tannnadelschnaps, den sie zu jeder Mahlzeit als Lebenselixier in Mini-Feuerlöschern servieren wollte.
Am Samstag um 15 Uhr holte sie ihre ersten drei Kunden am Bahnhof Brienz ab – natürlich mit einem ausrangierten Feuerwehrauto. Die Gäste wirkten müde und verstanden Frau Guru Brändle mit ihrem Brienzer-Dialekt nur der Spur nach. Umso geheimnisvoller wirkte sie. Nach einem feuerroten Glühwein forderte sie alle auf, die Rolle, die sie häufig im Leben spielen, als Maske darzustellen. Papier, Farben und Leim lagen auf einem langen Tisch.
Wie eine Kindergärtnerin motivierte und unterstützte Guru Brändle ihre Kunden. Nach jeder Stunde wurden Mantras gejodelt, die befreien sollten.
Nach dem Frühstück wurde wieder gejodelt und anschliessend wurden die Masken angezogen. Guru B.: «Was sagen uns die Masken und wie holen wir daraus unser Lebensfeuer?»

Der durchschaubar Coole: «Ich bin nicht etwa blau vom Tannenschnaps, sondern ich bekämpfe meine Emotionen, die rot vom Herzen heraufdrücken, und versuche, einen kühlen Kopf zu bewahren. Cool zu sein, ist aber höllisch anstrengend.» – «Das Bild ist cool, aber dein Lebensfeuer ist erloschen. Du bist ein durchschaubar cooler Idiot!» – «Was sagst du mir, du Hexe?» – «Aha, ein Funke hat gezündet! Verbrenne dein Bild in dir!» – «Dann bleibt nur Asche!» – «Das Mantra schenkt dir neue Ziele und zwar ganz viele!» Der Coole jodelte: «Blau, blau blüht der Enzian…» Guru B. rollte die Augen und ging zur nächsten Maske.

Globetrottel: «Ich lebe nur, wenn der Sitz unter mir fährt, fliegt oder schwimmt. Stillstand ist für mich Rückschritt.» – «Der Rollkoffer ist dein Brett vor dem Kopf. Du bist wirklich eine arme Globetrottelin. Gehe rückwärts um diesen Tisch und zähle dazu von Hundert bis Null!» Sie tut es ganz ängstlich. «Hunderte Reisen sind jetzt weg. Beginne dein Leben neu an einem Lagerfeuer und singe Mantras, bis all die Äusserlichkeiten verbrannt sind und das innere Feuer wieder aufflackert!» – «Stell dir vor, was mich all die Reisen gekostet haben. Du ruinierst mich!» – «Dein wichtigstes Mantra lautet: Nie würden die Weisen das Reisen preisen!» Statt zu jodeln, hustete die Globetrottelin jetzt eine Viertelstunde lang

Die Literaturnerin: «Ich bin Lektorin und auch sonst eine Torin. Ich turne in der Literatur herum, bis mich die Augen schmerzen. Mir ist egal, was in den Büchern steht. Wichtig ist nur, dass mein Hirn beschäftigt ist.» – «Ich servierte jahrelang Käse, bevor ich zu jodeln begann. Und du liest Käse. Erzähle uns etwas Spannendes aus deinem eigenen Leben.» – «Ich wüsste nicht, was in meinem Leben spannend sein sollte…?!» – «Deine Träume! Verbrenne deine Bücher und schreib deine Träume auf. Die spannendsten lebst du aus. Dein Mantra: ‚Das Buch – mein Fluch! Abenteuer sind mein Feuer!’» Die Literaturnerin sprang aus dem Fenster und landete bäuchlings auf einem Misthaufen.
Die Suche nach Archetypen
In der halbstündigen Pause fragte sich Frau Brändle alias Guru B., ob sie nicht bisher etwas zu harsch vorgegangen sei. «Als spirituelle Führerin sollte ich das Vertrauen meiner Anhänger nicht zu sehr strapazieren und vielleicht auch mal etwas weichere Fäden aufziehen», dachte sie sich. Sie absolvierte eine 15-sekündige Powermeditation, die aus einem sehr langen Ein- und Ausatmen bestand. Als ihr schwindlig wurde, weil sie sich verschätzt und zu lange und zu heftig eingeatmet hatte, musste sie sich kurz hinsetzen. Sie hatte eben einen feurigen Atem! Dann kam ihr auf einmal eine Idee. Nach der Pause, als sich alle wieder drinnen im Workshop-Raum versammelt hatten, verkündete Guru B.: «Wir besuchen nun gemeinsam das jährliche Holzbildhauersymposium. Dort suchen wir unseren gemeinsamen Archetypen – der ist nämlich bei jeder und jedem von uns im Unterbewusstsein gespeichert und wartet nur darauf, durch ein Holzobjekt Gestalt anzunehmen!» In Wahrheit hatte sie keine Ahnung, was ein Archetyp war – sie hatte das Wort mal irgendwo gelesen, es hatte ihr gefallen und sie hatte beschlossen, den Begriff ab sofort zu verwenden, wann und wo es ihr gerade beliebte.

Am Symposium staunten sie alle nicht schlecht, als sie die kunstvoll zugeschnittenen Holzfiguren sahen. Guru B. war plötzlich wieder ganz die Alte und befahl mit schriller Stimme: «Sucht euch eine Figur, die etwas mit eurem Leben zu tun hat, die euch anzieht, abstösst oder verunsichert. Oder aussieht wie eure Mutter!» Sie hatte mal irgendwo gelesen, dass bei Problemen immer die Mütter schuld waren.
Simon K., der nun ohne seine Maske des Durchschaubaren Coolen bleich und verletzlich aussah, zuckte plötzlich zusammen. Guru B. ging zu ihm hin und befahl: «Benenne alles, was dir durch den Kopf geht!» Simon K. stammelte: «Dieser Vogel… Ein Raubtier ohne Schnabel! Er ist so mächtig und doch vollkommen hilflos. Mit seinen mächtigen Schwingen hebt er ab in die Lüfte, er fängt eine Maus – und doch kann er sie dann nicht fressen. Er ist hilflos wie ein Baby. Ich bin auch hilflos. Ich kann mich nicht um mich selbst kümmern, ich gehe sinnlos auf die Jagd…» seine Stimme brach ab, er lehnte sich an eine Steinmauer und weinte vor sich hin.

Guru B. hatte keinen Nerv für dieses Geheule. Sie drückte Simon K. einen starken Schnaps in die Hand (Schnaps hatte sie immer dabei) und wandte sich an Anna M., deren Maske die der Globetrottelin gewesen war. «Und du, was siehst du?» Anna M. hatte ihre Brille vergessen, traute sich aber nichts zu sagen. Sie spähte angestrengt nach vorne zu den aufgereihten Figuren und tat, als würde sie überlegen. Dabei hatte sie keine Lust auf diese Figuren und konnte sie beim besten Willen auch nicht scharf sehen. So ging sie beiläufig etwas näher, bis sie in schallendes Gelächter ausbrach. «Der hier erinnert mich an meinen verfressenen Onkel Anton!» Sie deutete auf einen holzigen Männerkopf mit viereckigem Mund und grossen Zähnen. «Die Ähnlichkeit ist wirklich frappierend», fuhr sie fort, «Onkelchen Anton hat genau die gleiche Nase, und seine Zähne…» – «Danke, Anna, das reicht schon», unterbrach sie Guru B. Sie hatte keine Lust auf Verwandtschaftsgeplänkel. Eigentlich hatte sie insgesamt keine Lust mehr auf diesen therapeutischen Workshop.
Die sensible Greta S. war gar nicht mehr in der Rolle der Literaturnerin. Stattdessen hatte sie ihren Arm um den mittlerweile leise wimmernden Simon K. gelegt und weinte ihrerseits vor sich hin. Sie aber war traurig, weil sie die Huckepack-Figur an eine vergangene, unglückliche Liebschaft erinnerte. «Finn war einfach mein Traummann! Er hat mich immer so auf dem Rücken getragen und ich konnte mich an seinem Kopf festhalten. Es war so romantisch!» Simon K. blickte auf, schaute sie mit skeptisch gerunzelter Stirn an und meinte: «Machen das nicht normalerweise nur Väter mit ihren Töchtern? Vielleicht hast du deinen Vater in diesem Mann gesucht, und deshalb hat die Beziehung nicht funktioniert!» Er schien sehr stolz auf diese therapeutischen Gedanken zu sein und richtete sich auf. Seine Trauer war wie fortgewischt. Greta hingegen wandte sich beleidigt ab.

Die Krise der Guru B.
Guru B. merkte, wie ihr auf einmal komisch wurde. Ihr ganzer Körper fühlte sich taub an, sie spürte sich nicht mehr richtig. Dazu diese Müdigkeit… Was war los mit ihr? Auf einmal wusste Guru B., was ihr fehlte: Sie war ausgebrannt, genau wie ihre Gäste, die deswegen zu ihr in Therapie kamen. Also verordnete sie sich selber eine grosse Flasche von ihrem Tannnadelschnaps, so dass ihre drei Gäste sie am Abend schliesslich gemeinsam zum Hotel zurücktragen mussten. Am nächsten Tag reisten Simon K., Greta S. und Frank W. wieder ab. Alle schienen wieder munter, zufrieden und im Vollbesitz ihrer Kräfte zu sein. Guru B. hingegen blieb ausgebrannt. Unglücklicherweise brannte dann zwei Monate später auch noch ihr Hotel bis auf die Grundmauern nieder – wegen eines schweren Föhnwindes und unachtsamen Nachbarn. Dies raubte ihr den letzten Nerv, und sie versank in tiefer Verzweiflung. Schliesslich wurde sie von ihrer Ärztin in die Klinik Meiringen eingewiesen, wo sie nach einigen Wochen wieder zu Kräften kam. Es erstaunte sie, dass dies sogar ohne Mantra-Jodeln und Tannnadelschnaps gelang. Im Gespräch mit einer psychoanalytisch orientierten Psychologin lernte sie die korrekte Bedeutung der Archetypen kennen. Das machte sie sehr stolz, und sie beschloss, ihr Guru-Dasein nicht mehr weiterzuführen und stattdessen an der Uni Psychologie zu studieren.