Heinz Gfeller (72)
Das, was wir als «heutig» ansehen, erfasst doch nur unseren (europäischen, westlichen?) Zustand; ebenso das, was wir mit «(vor)gestrig» bezeichnen. Und schaut «(über)morgen» denn für die ganze Welt gleich aus?
Wir beleuchten dies anhand einer entlegenen mittelamerikanischen Gegend, welche zwei UND-Mitglieder vertieft kennengelernt haben. Cornelia Principi (59) lebte von 1985 an wiederholt bei einem ganz besonderen Stamm in Chiapas, bei den Lakandon – vor 60 Jahren etwa 70 Menschen in zwei Dörfern – heute wohl zehnmal mehr. Wie sie dazu kam, berichtet sie im UND Nr. 37 (Seite 54). Letztmals war sie 2019 dort; sie möchte auch erneut hinreisen. Walter Winkler (81) betätigte sich zwischen 2003 und 2008 mehrmals als Menschenrechts-Beobachter und kam so an verschiedene Orte, meist in Streusiedlungen. Die Region Chiapas war von Kämpfen geprägt, so dass die Beobachter durch ihre Anwesenheit den Einwohnern etwas Ruhe zu sichern suchten.
Grössere Volksgruppen hier heissen Tzotzil, Tzeltal, Ch’ol. Früher kannten sie einander kaum. Cornelia beschreibt sie als sehr verschieden von anderen MexikanerInnen: als grossherzig, naiv, unschuldig, gewaltfrei. Doch das habe sich geändert. Chiapas ist bekannt wegen der aufständischen Zapatisten, die in einem brutalen Krieg mit Regierungstreuen standen. Nicht alle Stämme halten zu Ersteren; etliche bekämpfen einander. Heute gefährden Richtung USA durchziehende Flüchtlinge und Drogenkuriere den Frieden zusätzlich. Gerade jetzt befindet sich die Gegend erneut in Unruhe. Die gewalttätige Situation ist Teil einer langen Reihe von Konflikten, die aus der Präsenz krimineller Gruppen resultieren, die – mit Zustimmung des Staates – darauf bestehen, die Kontrolle über das Territorium zu übernehmen.
Ein Riesensprung
Innerhalb kurzer Zeit haben sich grosse Verschiebungen ereignet. Cornelia fasst dies (für die Lakandon) so zusammen: Innert eines Menschenlebens haben sie Tausende Jahre Entwicklung durchgemacht: sozusagen aus der Steinzeit in eine «Moderne». Ihr «vorgestern» könnte vor ihrem Kontakt mit den Weissen liegen – der spät erfolgte, da sie weder kolonisiert noch missioniert worden waren. Ihr «gestern» aber prägten die danach auftretenden Probleme.
Walter wie Cornelia schildern die «vorgestrigen» Zustände, die sie antrafen. Schon die Anreise war beschwerlich. Cornelia fand damals noch keine Strasse vor, nur ein Postboot – heute wird eine Autobahn geplant. Walter kam per Bus, Kollektiv-Taxi, zu Fuss her. Er erzählt allerdings von einem Flugplatz – einer Art Fussballfeld –, wo er ein Kleinflugzeug mit einer todkranken Frau landen sah. Solche medizinische Versorgung bekommen Stämme, die sich mit der Regierung arrangieren; ansonsten stützen sie sich auf ihre Naturheilmethoden.
Als Cornelia das erste Mal in Kontakt mit dem Stamm der Lakandon kam, war sie tief beeindruckt: Sie bewegten sich in ihren langen weissen Gewändern und schwarzen Haaren wie aus einer anderen Zeit. Heute staksen junge Frauen im modernen Outfits, glitzernd, auf Stilettos – durch den Urwald. Die Behausungen waren und sind heute noch zumeist einfache Holzhütten, mit einer Pritsche und Hängematten, einer Feuerstelle draussen. Erstaunt sah Cornelia in neuerer Zeit neben solchen Hütten noch plastik-gedeckte Kartonliegen; da brachten Lakandon Ch’ols unter, die vor Kämpfen in ihrer Gegend geflohen waren.
Die meisten Menschen waren, auch laut Walter, Analphabeten. Sie unterschrieben vielleicht Verträge – mit Fingerabdruck –, die sie nicht verstanden, mit der Regierung oder Konzernen, die ihre Rohstoffe (Erdöl, Gas, Uran) ausbeuten wollen. Heutzutage gehen Kinder zur Schule; etliche werden eine Uni besuchen. 1985 sprach kaum jemand spanisch – heute fast alle. Walter erinnert sich an ein Spiel mit Kindern, wo Rechnen gefragt war. Dazu waren sie nicht imstande; doch wenn nötig, hätten sie einen Taschenrechner gefunden.
Auflösung der Kultur
Für die Lakandon sagt Cornelia: Die AnthropologInnen, die diese – die sich selber «hach winik» (echte Menschen) nennen – entdeckten, leiteten deren unaufhaltbare Abwendung von ihrer Kultur ein. Die bis in die 90er-Jahre übliche Selbstversorgung gaben sie grossteils auf, weil plötzlich Geld verfügbar wurde. Die Regierung ernannte das Volk zu «Beschützern des Regenwaldes», sicherte sich so aber Rechte. Das Volk spaltete sich. Ein Dorf macht jetzt Öko-Tourismus; anderswo hingegen gibt’s Leute, die noch kürzlich nichts von Covid vernommen hatten. Cornelia zitiert das legendäre Oberhaupt des Volkes, den Schamanen Chan K’in Viejo, der in enger Verbindung zur Natur lebte: Nach seinem Tod werde alles anders werden. Tatsächlich stehen seine Söhne, denen sein Format und seine Zugkraft fehlen, ganz woanders. Pfeile und Bögen, mit denen vorher noch gejagt wurde, verkaufen sie jetzt auf den Ruinen von Palenque an Touristen.
Eine Anekdote nur? Cornelia hatte für ihre Familie vor zehn Jahren eine Hütte bei ihren lakandonischen FreundInnen reservieren lassen; wie sie hinkamen, lag – was für ein Pech – ein umgestürzter Baum darauf. Cornelias Söhne, Handwerker, hätten ihn sofort beseitigt und die Hütte wiederhergestellt, doch das liess der Besitzer nicht zu, das war die Aufgabe seiner Söhne. Jahre später lag der Baum noch am selben Ort. Erst neulich haben sie die Hütte wiederaufgebaut.
Die Menschen, die der Zapatisten-Bewegung in Chiapas angehören, organisieren sich in «Caracoles» (Schnecken), selbstverwalteten Gemeinden. Sie wollen fragend voranschreiten und ihr Leben selbst bestimmen. «Jeder wollte sein Gärtchen haben; sonst brauchten sie nichts», meint Walter.
Eine Bedingung für Walters Einsätze war: so leben können wie die Menschen dort. Versuchen wir uns vorzustellen: Was hiess das vor 40 Jahren – was heute? Und was in Zukunft?