
Was ist für dich Heimat?
Fritz: Das ist für mich der Ort, an dem ich zu Hause bin, an dem ich keine Rolle spielen muss, sondern sein kann, wie ich bin, an dem ich meine Emotionalität ausleben kann. Heimat bedeutet für mich Geborgenheit und Sicherheit. Hier kann ich meine Kräfte wieder sammeln. Heimat ist für mich zunehmend nicht mehr an einen Ort gebunden. Ich finde Heimat heute in erster Linie in meinem engeren Freundeskreis.
Arbër: Der Sänger Dodo sang in seinem Lied «Leu vo Züri» einst: «Heimat isch es Gfüehl und ken Ort». So kurz und knapp der Satz auch ist, so prägend war er für mich schon als Kind. Ich bin Schweizer mit Migrationshintergrund. Meine Eltern stammen aus dem ehemaligen Jugoslawien, genauer gesagt aus dem heutigen Kosovo. Ich bin dort auf die Welt gekommen. Allerdings wanderte ich als einjähriges Kind mit meinen Eltern in die Schweiz aus.
Ich pendle zwischen zwei «Heimaten».
Arbër Shala
Ich bin in der Nähe von Interlaken im Berner Oberland aufgewachsen. Ich habe mich schon seit meiner frühsten Kindheit mit dem Ursprungsland meiner Eltern auseinandergesetzt. Die Sitten und Gebräuche, die Sprache und die Kultur sind mir noch immer sehr nah, deswegen kann ich mich recht stark mit meinen Wurzeln identifizieren. Allerdings gilt das gleiche auch hier in der Schweiz – ich pendle also zwischen zwei «Heimaten».
Was für ein Verhältnis hast du zum Begriff Heimat?
Fritz: Ein gespaltenes: Das hängt in erster Linie damit zusammen, dass der Begriff Heimat oft ausschliesslich für das Heimatland gebraucht oder missbraucht wird. In unserer globalisierten Welt verspüren viele Menschen eine Sehnsucht nach mehr Geborgenheit und Sicherheit – und da bietet sich der Rückzug in eine scheinbar heile Heimat an. Gewisse politische Kräfte versuchen mit ihrer Heimatnähe zu punkten und sprechen dann von Heimatliebe, von Vaterland und Patriotismus. Ich habe nichts gegen eine Identifikation mit dem eigenen Land, so lange diese Identifikation nicht dazu führt, andere Länder und andere Völker als zweitklassig abzuwerten. Schnell wird dann aus der Heimatliebe ein idealisiertes Konstrukt, das zu einem gefährlichen Chauvinismus und Nationalismus führt.
Ich habe nichts gegen eine Identifikation mit dem eigenen Land, solange diese nicht dazu führt, andere Länder und andere Völker als zweitklassig abzuwerten.
Fritz Zurflüh
Arbër: Ein Konstrukt mit zwei Seiten: Zum einen beschreibt es meiner Meinung nach etwas Formelles: Jeder Mensch in der Schweiz hat beispielsweise einen Heimatort, der in vielen amtlichen Ausweisen steht. Wie nah man diesem Ort ist, hängt grundsätzlich immer von einem selbst ab, es ist also individuell. Zum anderen ist es aber auch das emotionale Verhältnis zum Begriff Heimat, das man in sich trägt: Er kann sich auf ein Land, einen Kanton, eine Region oder auch nur auf eine Ortschaft beschränken. Hier stellt jeder Mensch eigene Definitionen her.
Wo ist deine Heimat?
Fritz: Meine Heimat ist das Emmental – genauer: – die Emmentaler Bauernwelt der 50er- und 60er-Jahre: die Handarbeit, die Gemeinschaft der Familie und die Auseinandersetzung mit der Natur. Diese Erfahrungen haben mich tief geprägt. Ich kann noch heute auf einer Fahrradtour an keiner Heumatte oder Kuhherde vorbeifahren, ohne anzuhalten und die Gerüche tief einzuatmen. Dann bin ich in meiner heilen Kinderwelt, die eben – wie sich nachträglich herausstellte – gar nicht so heil war. Mir ist mittlerweile klar geworden: Meine Heimat ist ein Mythos, es gab sie nie – besser: es gab sie nur in meiner Vorstellung. Und trotzdem erinnere ich mich gerne an sie.
Arbër: Im Laufe der Jahre wurde ich oftmals von Freunden und Bekannten gefragt, wo ich meine Heimat sehe. Ich sagte ihnen dann vielfach, dass meine Heimat immer dort sei, wo ich mich «heimelig» fühle. Diese Gefühle zeigen sich bei mir in Form von gesellschaftlicher Zugehörigkeit und Anteilnahme sowie dem sozialen Netzwerk wie Freundes- und Familienkreis. Seit fünf Jahren lebe ich in Thun und habe diese Stadt sofort in mein Herz schliessen können. Ich fühle mich in Thun also sehr «heimelig», da ich solche Gefühle empfinde.

Warum hast du deine Heimat verlassen?
Fritz: In meiner heimatlichen Emmentaler Bauernwelt zählten nur die eigenen Werte. Als ich in den frühen Siebzigerjahren das Lehrerseminar im oberaargauischen Langenthal besuchte, wohnte ich bei einer Schlummermutter und kehrte nur noch an den Wochenenden auf den Hof zurück. Hier begann meine Entfremdung vom Emmental. Meine neue Erfahrungswelt der Mittelschule fand hier keine Andockpunkte – sie blieb fremd und ich wurde immer fremder. Ich spürte die Enge dieser Emmentaler Welt in der eigenen Seele und litt daran – mich schmerzte die selbstverständliche Bevorzugung der Emmentaler Welt, die Abwertung und Abweisung des Unbekannten und Fremden.
So wurde ich langsam zu einer Art Kulturemigrant. Ich gehörte nicht mehr zu dieser Welt, ich hatte sie verloren und hatte gleichzeitig keine neue. Ich war jahrelang irgendwie heimatlos. Über die Jahre meiner Berufszeit wurde ich langsam zu einem urbanen Menschen. Die Sehnsucht nach der bäuerlichen Welt trage ich aber immer noch in mir. Ich habe gelernt, mit dieser inneren Zerrissenheit zu leben. Ich bleibe ein Emmentaler und ich habe mich mit dem Emmental versöhnt!

Arbër: Als Kleinkind hatte ich keine andere Wahl. Mein Vater war in den 80er-Jahren im ehemaligen Jugoslawien politisch aktiv und setzte sich mit seinen Studienkollegen für die damalige albanische Minderheit ein. Als viele Aktivisten arrestiert wurden und in den 90er-Jahren die Jugoslawienkriege ausbrachen, befürchtete mein Vater eine düstere Zukunft für unsere Familie. Er flüchtete mit meiner Mutter und mir ins Exil – zunächst in die benachbarten Länder Nordmazedonien und Albanien.
Als meine Eltern auf Anraten von Freunden beschlossen, endgültig auszuwandern, fuhren wir mit einer Fähre von Albanien nach Italien hinüber und mit dem Zug weiter in Richtung Schweiz. Wir wurden von den Behörden als politische Flüchtlinge akzeptiert und liessen uns schliesslich hier nieder, um eine Existenz aufzubauen. Es war eine regelrechte Odyssee. Ich bin der Schweiz deshalb bis heute dankbar dafür, dass ich in ihr eine neue Heimat gefunden habe.