
Marianne: Freudig werden wir Autorinnen von den Teilnehmerinnen des Fotodialogs begrüsst und rücken unsere Stühle in den Kreis. Nathalie Danja Streit, die Kunsttherapeutin und Initiantin des fotodialogischen Angebots, geht neue Wege in der Betreuung von Menschen mit Demenz. Sie zeigt vergrösserte Schwarzweissfotos aus dem früheren Leben der fünf Frauen und lässt sie berichten. Vergrabene Erinnerungen tauchen wieder auf und bringen starke Emotionen zu Tage.
Nathalie Streit hat eine Begegnungsplattform geschaffen, die es ermöglicht, Lebensgeschichten im gesellschaftlichen Rahmen auszutauschen. Die Fotos bringen Vergangenes in die Gegenwart und animieren zum Erzählen. Gerne geben die Teilnehmerinnen ihre Lebenserfahrungen weiter. Hier finden Gespräche und ein reger Austausch statt. Manchmal sind sich nicht alle einig. Nein, früher waren die Aufgaben für Mann und Frau auch auf dem Bauernhof getrennt.
«Das Medium Fotografie dient dem Beziehungsaufbau, schafft Orientierung, Sicherheit und weckt das Gefühl verstanden zu werden.»
Meistens sah man sich tagsüber nicht – entgegnet die ehemalige Bäuerin ihrer Nachbarin. Diese ist eine Städterin, welche meinte, früher hätten Mann und Frau auf dem Bauernhof ein gemeinsames Leben gehabt. Diese Interaktionen sind äusserst wertvoll. Als Mensch wahrgenommen zu werden, Aufmerksamkeit und Zuwendung zu erfahren und Teil der Gemeinschaft zu sein, sind echte Glücksbringer. Neugier wird geweckt und im Moment sind alle sehr präsent.
Die TeilnehmerInnen sagen, sie seien zufrieden mit ihrem Leben im Altersheim. Positiv überrascht haben mich ihre Gedanken zur heutigen Zeit. Einige von ihnen finden es toll, dass Mädchen heute auch Männerberufe lernen. Sie sollen tun, was ihnen Freude macht. Sorgen bereitet ihnen die Zukunft. Wird es dann auch noch Arbeitsplätze für alle geben?
Bleibende Erinnerungen
Die geweckten Erinnerungen hinterlassen Spuren. Ja, sie wäre so gerne Kinderkrankenschwester geworden, wiederholt eine Frau immer wieder. Sie erzählt dieselben Erinnerungen mit Kleinkindern immer von neuem. Leider musste sie, wie ihre ganze Familie, in der Fabrik arbeiten. Welche Fabrik? Welche Arbeit? – sie weiss es nicht mehr. Aber die Kinder, ja, die Kinder hatte sie geliebt: sie zu hüten, zu pflegen und mit ihnen zu spielen.
Eine der Frauen ist eher zurückhaltend und sagt nicht viel. Nathalie Streit ist sehr einfühlsam im Umgang mit den Teilnehmerinnen. Sie weiss, wie alle in die Gemeinschaft einzubeziehen sind. Katzen, ja, da kennt sich die sonst so stille Frau aus und spricht mit uns über ihre Katzen. Jetzt gehört sie ganz dazu, ist Teil der Gruppe. Ein Familienfoto anlässlich der Taufe ihres Sohnes bringt viel Freude ins Gesicht einer anderen Frau. Mit viel Liebe habe sie ihren Sohn verwöhnt, Geld hatte sie ja keines.
Ein ausserordentlich schöner Nachmittag: So viel aus dem wahren Leben erfahren und echte Einblicke ins Leben mit Demenz erhalten. Statt kognitiver Fähigkeiten spielen hier individuelle Werte, Gefühle und Erfahrungen eine wesentliche Rolle. Dank Menschen wie Nathalie Streit mit so viel Empathie und Engagement ist der kreative Dialog mit Menschen mit Demenz möglich.
Tabea: Ein zweijähriges Pilotprojekt, der «Foto-Generationendialog» im Zentrum Schönberg in Bern wurde im Sommer 2018 abgeschlossen. In dessen Rahmen fanden mit zwei Schulklassen, jeweils während eines ganzen Schuljahres, regelmässige Begegnungen zwischen BewohnerInnen und SchülerInnen der 9. Klasse «Freispiel» der NMS in Bern statt. In den Begegnungen zwischen Jung und Alt zeigten sich weiterführende Potentiale, gerade wenn die Jungen selbst kreativ wurden.

Spontan entstand so beispielsweise ein Privatkonzert, um die ältere Generation gezielt musisch anzusprechen. Zudem absolvierten mehrere Jugendliche anschliessend eine Sozialwoche oder ein Praktikum im Zentrum Schönberg. Das Interesse wuchs also weiter. Nicht selten machten BewohnerInnen von sich aus zu den Fotodialogen Notizen, damit das für sie Wichtige nicht in Vergessenheit gerate. Eine Bewohnerin drückte Nathalie einen Zettel mit ihrer Telefonnummer in die Hand. Sie hatte ihre Rolle im Projekt erkannt und wollte darin wirksam werden.
Gleichberechtigung ist omnipräsent
Am 8. Februar, als Marianne und ich an einem Foto-Dialog mit Nathalie und fünf Bewohnerinnen teilnahmen, war die Gleichberechtigung ein wichtiges Thema. Ein Zitat von Jeremias Gotthelf wurde erwähnt: «Im Hause muss beginnen, was leuchten soll im Vaterland». Wer macht zu Hause den Abwasch? Nur die Mädchen oder auch die Jungs?
Nathalie sorgte für einen roten Faden im Gespräch. Selbst wenn es manchmal chaotisch war, konnte sie alle Teilnehmerinnen mit bildlichen Impulsen ohne Worte ansprechen und jede konnte sich beteiligen. Das Medium Fotografie dient dem Beziehungsaufbau, schafft Orientierung, Sicherheit und weckt das Gefühl, verstanden zu werden.

Bilder von früher und heute wurden auf einem grossen Bildschirm gezeigt zu Themen wie Liebe, Schule, Haushalt, Kochen, Nähen, Spielzeug und Berufswahl. Ich stellte dabei fest, unter welch privilegierten Umständen ich aufwachsen und Chemie studieren durfte. Ich konnte mein Leben selbst bestimmen. Dieser Vergleich zu früher war spannend für mich. Gerne würde ich noch mehr über die Lebensgeschichten dieser Frauen erfahren. Sie haben den 2. Weltkrieg erlebt und noch vieles mehr, was ich mir heute nicht mehr vorstellen kann.
Akzeptieren loszulassen
Nathalie weiss, was Demenz bedeutet: «Täglich machen diese Menschen die Erfahrung des Loslassens, sind regelrechte Experten auf diesem Gebiet und somit können wir viel von ihnen lernen. Sie folgen dem Wahrhaften, Gegenwärtigen und Intuitiven, denn das Herz wird nicht dement. Allerdings rüttelt das Loslassen von Vergangenem und Zukünftigem an der persönlichen Biografie ihrer Angehörigen.»
«Leider musste sie, wie ihre ganze Familie, in der Fabrik arbeiten. Welche Fabrik? Welche Arbeit? – sie wusste es nicht mehr.»
Über ihr Projekt sagt uns Nathalie Streit, dass es öffentlichkeitswirksam ist, dass es statt des oft vermittelten trostlosen, grauen und angsteinflössenden Bildes im Zusammenhang mit Demenz ein buntes, lebendiges aufzeigt. Dieses Treffen im kleinen Kreis mit den fünf Frauen hat meine Vorstellung von Demenz verändert. Ich war überrascht, wie offen der Umgang miteinander war. Werden sich die Bewohnerinnen an uns erinnern? Vielleicht anhand der Fotos von uns allen. Sie jedenfalls werden mir im Gedächtnis bleiben.
Gesellschaftliche Teilhabe
Nathalie findet diesen Austausch sehr wichtig. «Bei dem, was sich im Rahmen der anfänglichen Foto-Erzählcafés zeigte, ging es um gesellschaftliche Teilhabe, um ein Einbinden, ein Verbinden – um Begegnungen ausserhalb des Heimraums. Meine Verantwortung sah ich stets im Unterstützen des Prozesses vom Ich zum Wir.»
Dieses Wir-Gefühl der Gruppe haben auch wir zu spüren bekommen. Am Anfang stellten Marianne und ich uns vor, mit persönlichen Bildern von früher. Das Zusammengehörigkeitsgefühl wurde mir von Anfang an bewusst. Diese Frauen kennen einander und hören sich zu. Sie sind wachsam und können auch ihre Meinung direkt sagen und einander zurechtweisen.
Das trägt viel zur Lebensqualität der BewohnerInnen bei. Deshalb bewundere ich dieses Projekt sehr. Es ist berührend, mitanzusehen, wie die Beteiligten von ihrem Leben erzählen, mit so viel Selbstironie, Empathie und Wachsamkeit. In den Bildern erkennen die Menschen mit Demenz ihre Vergangenheit.
Weitere Informationen zum Projekt:www.na-da.ch
Guter Umgang mit Dementen
Wie mit dementen Menschen umgehen? Hier ein paar Tipps: Lasst Demenzbetroffene an eurem Leben teilhaben, an dem, was euch bewegt und euch am Herzen liegt. Zeigt ihnen zum Beispiel aktuelle Fotos von einem Ausflug, von Enkelkindern, oder ein Foto von früher, welches eine Erfahrung zeigt, die ihr nicht missen möchtet.
Fotodialog?
Im Fotodialog begegnen sich Alt und Jung auf Augenhöhe, als Experten ihrer persönlichen Wahrnehmung, Sichtweise und Zeiterfahrung. Sie inspirieren sich gegenseitig und lernen voneinander. Begegnungen über das Medium Fotografie können für beide Generationen gleichsam spannend, bereichernd und bildend sein.
Liebe Tabea, liebe Marianne, herzlichen Dank für euren Besuch, die Teilhabe und Euren wundervollen Beitrag, den Ihr geschrieben habt.