Das Thema ist unumstritten aktuell. Aktueller denn je. Älterwerden. Bis im Jahr 2060 soll es fast doppelt so viele Menschen geben, die älter als 65 Jahre alt sind. Heute noch halten sich die jüngsten Menschen (zwischen 0 und 20 Jahren) und die ältesten (ab 65 Jahren) etwa die Waage. 17.8 Prozent der Menschen in der Schweiz sind über 65 und 20.2 Prozent unter 20 Jahre alt. 2060 sollen nach einer Prognose 28 Prozent über 65 und noch 18 Prozent unter 20 Jahre alt sein. National- und Ständerat diskutierten in der Herbstsession über die Alters- und Rentenvorsorge. Die Finanzierung ist eine grosse Herausforderung. Für einen Kompromiss müssen alle ihre Maximalforderungen zurückstecken.
Doch Zahlen, Politik und Finanzen sind das eine – die Menschen dahinter das andere. Was bedeutet es heute, pensioniert zu werden? Ist altern eine Kunst?
Die Profis
Das Museum für Kommunikation in Bern bringt mit der Ausstellung «Dialog mit der Zeit» eben dieses Thema aufs Tapet. In einer speziellen Form. SeniorInnen ab 70 – quasi mit mindestens fünf Jahren Berufserfahrung – führen durch die Ausstellung. «Sie sind für uns Profis – auch wenn sie noch nie eine Ausstellung gemacht haben – denn sie wissen Bescheid, darüber, was es heisst, alt zu sein», sagt Ausstellungskurator Kurt Stadelmann. Mit der Pensionierung verändere sich für die Menschen vieles, führt Stadelmann aus. Die Leute seien dann von der Gesellschaft nicht mehr oder in einer anderen Form gefragt. «Das Potential der erfahrenen Leute wollen wir nutzen.» So veröffentlichten Stadelmann und sein Team Stelleninserate. Gesucht waren Menschen ab 70 Jahren. Es bewarben sich insgesamt 90 Personen mit verschiedensten Hintergründen. 80 von ihnen kamen zum Casting und 35 wurden schliesslich vom Museum für Kommunikation zu Seniorguides ernannt.

Unter den Auserwählten sind auch die UND-Mitglieder Karin Mulder und Annemarie Voss. Sie fanden die Ausschreibung witzig und bewarben sich sofort. «Zuletzt habe ich mich vor etwa 30 Jahren beworben», lacht Annemarie Voss. Karin Mulder denkt an das Casting zurück: «Wir mussten uns in drei Minuten mit drei Bildern vorstellen. Da gab es einige, die waren nach drei Minuten erst gerade bei ihrer Kindergartenzeit angelangt.» Das gehe natürlich nicht in einer Ausstellung, in der es um Dialog geht, findet die 76-jährige Karin Mulder. Wichtig sei auch zuhören zu können – «einige ältere Menschen müssen das noch lernen». Lernen ist für Karin Mulder ein lebenslanger Prozess. Gerade in der Ausstellung hoffe sie darauf, viele neue Menschen und neue Geschichten kennen zu lernen.
Coole Alte
Karin Mulder sagt über das Altern Sätze, die sich gut in ein Heft für Lebensweisheiten schreiben liessen: «Für mich bedeutet Älterwerden immer wieder etwas loszulassen. Ich bemerke aber auch, dass ich durch das Älterwerden immer mehr erhalte.» Zwar verliere man körperliche Fähigkeiten, doch könne man auf eine Fülle von Erfahrungen zurückblicken.

Von diesen Erfahrungen will das Museum für Kommunikation profitieren. Kurt Stadelmann schwärmt von «den Alten», die er nun zu Seniorguides ausbildet. Er findet sie «cool» und total «locker». Sie würden auf E-Mails innert weniger Stunden antworten und seien «offen». Wie stellt sich eigentlich der Kurator selbst sein Älterwerden vor – und warum ist die Thematik für ihn brisant? Bei einem Besuch im September in Bern steht Stadelmann Red und Antwort.
UND: Herr Stadelmann, haben Sie persönlich eigentlich Mühe mit dem Älterwerden?

Kurt Stadelmann: Nein. Denn ich möchte heute nicht mehr jung sein. Was heutzutage junge Leute, wie mein 18-jähriger Sohn, alles müssen und nicht dürfen… Hingegen versuche ich, Wissen weiterzugeben, ohne zu sagen: «Früher war alles besser». Da ist Dialog sehr wichtig. Schade ist, dass unsere Gesellschaft dem «älteren» Wissen wenig Wert beimisst. Bei Älteren ist das Knowhow versteckt, denn sie wollen sich oftmals nicht aufdrängen.
Älterwerden ist ein lebenslanger Prozess. Auch ein Kind wird älter. Warum ist die Ausstellung auf alte Menschen ausgerichtet?
Ich bin 55. Ab 50 merkte ich: Ich arbeite jetzt nur noch 15 Jahre. Mit 50 merkt man: Jetzt habe ich sicher die Hälfte meines Lebens hinter mir. Was mache ich noch? Was habe ich bisher gemacht? Diese Fragen stellt man sich mit 30 noch nicht. Ab einem gewissen Alter wirft man Ballast ab, wird gelassener. Und: man weiss mehr.
Gibt es auch Gefahren beim Älterwerden? Isolation, Verbitterung…
Ja, das ist ein grosses Thema. In meiner Nachbarschaft kenne ich jemanden, der sehr verbittert ist. Doch: Je vielfältiger die Leute, desto weniger verbittert sind sie. Auch Geld ist ein wichtiger Faktor in der Schweiz. Altersarmut gibt es schliesslich auch. In der Schweiz haben ältere Menschen im Vergleich zu den anderen europäischen Ländern aber mehr Geld und die Älteren sind daher vielleicht auch weniger verbittert.
Was ist die grösste Herausforderung, jetzt wo es immer mehr alte Menschen gibt?
Die Integration, die generationenübergreifend sein soll. Gemeinschaften zwischen Generationen müssen angestrebt werden. Ab 65 Jahren sind viele Menschen plötzlich weit weg von den anderen Generationen. Das ist ja eigentlich total schräg. Die Pensionierung ist wie eine Demarkationslinie. Man zieht eine Grenze, wo keine ist. Denn eine gerade Linie gibt es in der Natur sowieso nicht, wie es schon Hundertwasser sagte. Wenn man möchte, kann man oft im Rentenalter noch arbeiten oder auch früher in Rente gehen. Auch Wohnformen, Lebensformen können anders, flexibler und vielfältiger aussehen.
Altersheime sind für viele Menschen Inbegriff des Alt-Seins. Wie stehen Sie dazu?
Meine Mutter ist im Altersheim. Sie ist sehr dement. Was ich dort sehe, schockiert mich. Klar, den Leuten geht es gut, sie sind versorgt. Aber das Prinzip finde ich schwach. Man wirft Menschen in ähnlicher Lage einfach auf einen Haufen. Das ist schade. Ich kenne die Lösung dieses Problems auch nicht. Niemand will ins Altersheim. Ich auch nicht. Das ist verständlich. Natürlich wird viel Gutes getan. Aber das Gesellschaftsmodell sagt einfach: So, ab hier ist fertig, jetzt kommst du ins Heim. Das sollten wir überdenken. Man muss gerade hier versuchen, miteinander Wege zu suchen, wie verschiedene Altersgruppen miteinander leben können.
Hier sind wir wieder beim Thema Kommunikation. Was müssen ältere Menschen lernen, damit sie diese intergenerative Kommunikation leben können?
Es müssen beide Generationen lernen. Man muss einfach versuchen, gemeinsam etwas zu machen. So ist es ja auch mit den Flüchtlingen: Max Frisch sagte einmal «Wir suchten Arbeiter, es kamen Menschen». Das Menschliche am Zusammensein ist wichtig.
Dialog in der Familie ist manchmal gar nicht möglich oder auch schwierig, weil vorbelastet. Pflegen Sie den Dialog mit Jung und Alt ausserhalb der Familie?
Ja, arbeitsbedingt pflege ich den Kontakt zu Jüngeren und Älteren.
Und neben dem Beruf?
Ja, würde ich sagen. Ich bewege mich nicht nur bei den 50-Jährigen. Mit meinem ehemaligen Deutschlehrer – er ist 80 Jahre alt – habe ich ein Buch geschrieben. So habe ich etwa mit sechs Leuten ein Buch gemacht. Die persönliche Begegnung ist auch hier wichtiger als das Buch-Schreiben selbst.
Zur Ausstellung
Das Museum für Kommunikation in Bern zeigt die Ausstellung «Dialog mit der Zeit» vom 13. November 2015 bis zum 10. Juli 2016. Das Konzept für die Ausstellung über das Älterwerden kommt aus Deutschland. Die Idee dazu hatten Orna Cohen und Andreas Heinecke, die auch ein soziales Unternehmen für Dialog aufgebaut haben. Die Ausstellung war erstmals 2014 in Frankfurt, später dann in Berlin zu sehen. Allerdings wurde in Bern nur das grobe Konzept übernommen, denn die Guides kann man natürlich nicht einfach importieren. Entscheidend sind die SeniorInnen – sie prägen den «Dialog mit der Zeit» und werden ausgebildet. (er)
Mehr Infos: www.mfk.ch
Ausstellung «Dialog mit der Zeit» mit Seniorguide Karin Mulder
Samstag, 5. Dezember 2015
Besammlung um 10.00 Uhr vor dem Museum für Kommunikation in Bern
Kosten: 6 Franken (bitte am 5. 12. mitbringen)
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