Der erste Poetry Slam fand in den 80er Jahren in Amerika statt. Es handelt sich dabei um einen Vortragswettbewerb – oder zutreffender um eine Dichterschlacht –, bei der es darum geht, mit selbstgeschriebenen Texten die Gunst des Publikums zu gewinnen; dieses kürt am Schluss den Sieger oder die Siegerin. Noch sind die Männer stärker vertreten als die Frauen. Neben den vielen lokalen Slams gibt es auch regionale, nationale und sogar internationale Wettbewerbe. Die deutschsprachige Slam-Szene gilt nach der englischsprachigen als die zweitgrößte der Welt.
Wie erwähnt, müssen die Texte selbstgeschrieben sein. Requisiten, Kostüme und Instrumente sind nicht erlaubt. Die Zeitlimite von in der Regel fünf bis sechs Minuten darf nicht überschritten werden. Wer überzieht, wird mit Punkteabzug, Mikrofonentzug – oder wie im MOKKA – mit Gesichtsverzierung aus der Rahmspraydose bestraft. Die SlammerInnen sind bemüht, ihren Beitrag möglichst charismatisch und originell rüberzubringen. Da wird gestöhnt, geflüstert, ge- und beschimpft, gejammert, geflucht oder auch nur ganz cool rezitiert. Die Texte sind in der Regel nicht besonders nachhaltig, lösen aber zweifelsfrei beim Publikum Gefühle aus wie Mitleid, Schadenfreude, Verärgerung, Staunen, Bewunderung, Begeisterung… Manchmal steht man auch ratlos wie ein begossener Pudel da, wenn der Verdacht aufkommt, dass die oder der Vortragende am Tourette-Syndrom leiden muss, weil man sich den Output von so viel Obszönität und Aggressivität anders nicht erklären kann.
Aber Spass macht es mir immer, diesen Wortakrobaten zuzuhören und zuzuschauen. Allerdings sollte sich MC Anliker überlegen, ob er den etwas Älteren und den weniger Standfesten nicht eine Sitzgelegenheit zugestehen könnte.
Folgende SlammerInnen haben uns im Mokka erfreut und unterhalten:
der Wortspieler KILIAN ZIEGLER aus Olten, aus Marburg der Storyteller MARVIN RUPPERT, PESCHE HEINIGER aus Niederfrittenbach im Emmental, die zur Zeit in Berlin wohnende und in der Schweiz aufgewachsene (und trotzdem nicht gross gewordene) OLGA LAKRITZ, der reimende Zürcher PHIBI REICHLING, und MERAL ZIEGLER aus Konstanz, die zahlreiche Fragen aufwirft (und einige Antworten gleich mitliefert).
Poetisches im MOKKA
Es ist feuchtkalt und neblig draussen, Annemarie wartet drinnen im Foyer auf mich. Die Jacke hat sie schon an der Garderobe abgegeben und den Eintritt bezahlt. Wir gehen rein in diese verrückte, bunte, schrille kleine Welt «MOKKA». Die Musik läuft, der Raum füllt sich. Annemarie kennt das MOKKA schon lange. Im Gegensatz zu den vielen wechselnden Restaurants und Geschäften in Thun habe das Haus an der Allmendstrasse 14 Bestand. «Früher wurde hier drinnen noch geraucht», erzählt sie und schaut sich im Raum um. «Und gekifft natürlich, in rauen Mengen. Ich staunte jeweils, dass die Leute auf der Bühne überhaupt noch singen konnten.»
Ich hingegen staune ob dieser Siebzigjährigen, die den Club so gut kennt, drei Stunden am Stück vor der Bühne steht und mehr Ahnung von Poetry Slam hat als manch ein 25-Jähriger im Raum. Die meisten Leute ihrer Generation hätten keine Ahnung, was Poetry Slam sei, aber es gefalle ihr, sagt sie. Sie war sogar schon in Deutschland an Slams.
Gegen halb neun ist der Raum beinahe voll. Das Publikum ist bunt gemischt, alle Altersklassen sind vertreten. Slam Poetry verbindet offenbar doch Generationen. Die Stimmung ist gut. Das wird uns später auch Co-Moderator und Thuner Slammer Remo Rickenbacher bestätigen.
Tätschmeister MC Anliker betritt die Bühne. Er heisst alle willkommen, zitiert uns ein wenig näher an die Bühne heran und übergibt das Wort schliesslich den Moderatoren Remo Rickenbacher und Valerio Moser.
Dann geht es los: Die Poetinnen und Poeten werden, nur mit Mikrophon und Textblatt ausgerüstet, auf das Publikum losgelassen. Ihre Texte sind rasant, ironisch, nachdenklich, persönlich, wütend, witzig; sie greifen aktuelle, manchmal politische Themen auf. Das Publikum hört gebannt zu, schüttelt sich vor Lachen; die Jury verteilt lauter gute Noten. Der spätere Gewinner Marvin Ruppert findet, wir seien freundlich, als wir sein «Hallo» erwidern.
Der Abend ist kurzweilig, ein Text unterhaltender als der andere. Am Ende darf der Sieger die Flasche Dalmore Whisky öffnen. Der 14. Thuner Slam ist schon vorbei und schleudert uns aus der warmen knalligen MOKKA-Oase zurück in die nebligen, nächtlichen Strassen der Thuner Innenstadt.