«Ich habe immer mehr das Gefühl, dass ich die einzig Normale in einer kranken Gesellschaft bin. Ich komme mit den Normen nicht mehr zurecht. Immer gut drauf sein, immer leistungsfähig, immer top und erfolgreich.» So schrieb eine psychisch kranke Frau 2008 in einem psychologischen Forum. Damit bringt sie auf den Punkt, was die Bewegung «Antipsychiatrie» seit Jahrzehnten bewegt: Eine kranke Gesellschaft produziere Menschen, die versagten. Statt dass sie integriert und gestützt werden, kommen sie mit andern von der Gesellschaft als «gestört» bezeichneten Menschen in eine Klinik mit autoritären Strukturen. Statt dass die Krankheit geheilt wird, wird sie verstärkt. Einzelne VertreterInnen der Antipsychiatrie gehen so weit zu sagen: Die psychisch Kranken sind die eigentlich Gesunden. Sie sind noch sensibel genug, um an einer kranken Gesellschaft zu leiden.
Schon der berühmte Philosoph Michel Foucault schrieb 1961 in seinem Buch «Wahnsinn und Gesellschaft», Wahnsinn sei ein Teil des Menschseins, und es sei reine Machtausübung, wenn solche Menschen ausgegrenzt und als krank behandelt würden. Zur Zeit der 68er-Bewegung fiel dieses Gedankengut auf fruchtbaren Boden. Die Antipsychiatrie wurde zur weltweiten Bewegung.
Sie kritisierte vor allem, dass die Psychiatrie psychische Störungen rein medizinisch verstehe und dass in den Institutionen unzumutbare Zustände herrschten. Sie verlangte auch, dass die Psychiatriegeschichte besser aufgearbeitet werde. Das betraf vor allem die Verbrechen des Nationalsozialismus. Es sei zu wenig getan worden, um die Zwangssterilisationen und die Ermordung von psychisch kranken Menschen zu klären.
Noch bis vor wenigen Jahrzehnten waren die Zustände in den psychiatrischen Institutionen schlimm. Zwangseinweisung ohne Rekursmöglichkeit, liebloses Klima, autoritäre Behandlung und stundenlanges Festbinden waren die Regel. Heute hat die Psychiatrie dieser Kritik weitgehend Rechnung getragen.
«Gesetz 180»
In Italien waren die Zustände in den psychiatrischen Institutionen besonders schlimm. Dementsprechend fiel auch die Kritik an den Zuständen heftig aus. Schon anfangs der Sechzigerjahre führten Franco Basaglia und andere in einzelnen Institutionen mutige Reformen durch. Die Öffentlichkeit nahm daran Anteil. Und so wurde 1978 das berühmte «Gesetz 180» erlassen, das dazu führte, dass alle psychiatrischen Institutionen geschlossen wurden. Die PatientInnen wurden entlassen und daheim, in Spitälern oder Wohngemeinschaften betreut. Doch mit der Umsetzung haperte es. Zwangseinweisungen gab es weiterhin. In den neuen Institutionen wurden alte Zustände oft wieder eingeführt.
Ein umstrittenes Krankheitsbild
Die Kritik der Antipsychiatrie bezog sich vor allem auf das Krankheitsbild, das wir heute als Schizophrenie bezeichnen. Menschen mit Wahnvorstellungen wurden damals meist eingesperrt, angekettet, ans Bett gefesselt.
Man behandelte sie mit warmen Bädern oder Aderlass. Später kamen Elektroschocks und hoch dosierte Psychopharmaka dazu. Besonders fragwürdig war die Lobotomie, das operative Zerstören eines Gehirnareals. Die Antipsychiatrie forderte, dass die familiären und gesellschaftlichen Hintergründe der Krankheit untersucht und in die Beurteilung einbezogen wurden. Statt willkürlicher Diagnosen und autoritärer Strukturen sollten die Patienten vermehrt menschliche Wärme erfahren und zur Eigenverantwortung angeregt werden.
Heute hat die Psychiatrie vieles aus dieser Kritik aufgenommen. Schizophrenie gilt heute als eine Störung, die aus vielen verschiedenen Ursachen entsteht. Wobei mit der Diagnose sehr vorsichtig umzugehen ist. Weil diese Krankheit in viele verschiedene Formen unterteilt wird, orientiert sich ein Facharzt bei der Diagnose an verschiedenen Symptomen bei PatientInnen. Dazu gehören Wahnvorstellungen, visuelle und akustische Halluzinationen, beeinträchtigtes Denkvermögen, Abflachen der Gefühle und Veränderung der Bewegung. Bei der Diagnostik werden neuropsychologische Tests teilweise ergänzt durch Blutuntersuchungen sowie bildgebende Untersuchungsverfahren wie zum Beispiel einer Computertomographie.
Therapiert wird eine Schizophrenie für gewöhnlich mit Psychopharmaka und optional mit Psychotherapie. Die Psyche des Menschen wird durch moderne Medikamente beeinflusst. Um auf die Antipsychiatriebewegung zurückzugreifen, sind hier Kritikpunkte zu erkennen. Damals gab es keine der heutigen modernen Behandlungsmethoden. Schizophrenie wurde mit Methoden wie der Elektroschocktherapie oder der Lobotomie behandelt.
Es gibt heute viele Hinweise darauf, dass Neuroleptika wirken. Menschen mit Schizophrenie reagieren in einer bestimmten Hirnregion besonders empfindlich auf Dopamin. Dies ist ein Botenstoff des Nervensystems und beispielsweise zuständig für die Motivation. Der Dopaminhaushalt ist im Falle einer Schizophrenieerkrankung gestört. Neuroleptika wirken auf das Dopamin und können so wirksam eingesetzt werden.
Viel gelernt
Wie an diesen Beispielen ersichtlich wird, hat die Psychiatrie von der Antipsychiatrie viel gelernt. Dass jemand zwangsweise eingewiesen wird, ist selten und wird kontrolliert. Die PatientInnen können die Entlassung beantragen. Die Aufenthaltsdauer in der Klinik ist begrenzt. Junge PatientInnen werden in Wohngemeinschaften behandelt und auf den Wiedereinstieg in das Leben in der Gesellschaft vorbereitet. Dass die Familie mit einbezogen wird, ist heute selbstverständlich. Die Medikation wird sorgfältiger abgewogen, im Rahmen des Möglichen wird Psychotherapie angeboten.
Der Begriff «Antipsychiatrie» wurde erstmals 1967 von David Cooper verwendet. Es handelt sich um eine schon länger bestehende politische und soziale Bewegung, welche sich explizit gegen eine akademische medizinische Disziplin wendet. Die Bewegung selber entstand aber schon vorher.
Hintergrund: Das Kuckucksnest
Der 1962 in den USA erschienene Roman «Einer flog übers Kuckucksnest» von Ken Kesey, welcher 1975 auch verfilmt wurde, steht in kritischer Haltung zu psychiatrischen Institutionen. Der Autor und Aktionskünstler arbeitete selbst als Aushilfspfleger in einer psychiatrischen Klinik. Er nahm an einem CIA-Forschungsprogramm teil, bei dem die Auswirkungen psychoaktiver Drogen getestet wurden. Das Werk zählt zu den bedeutendsten der jüngeren amerikanischen Literatur. Denn packend und intelligent geschrieben, entlarvt es das oftmals unmenschliche System der damaligen Psychiatrie.
Der Roman wird aus der Erzählperspektive des Klinikinsassen Bromden (eines taubstummen schizophrenen Indianers) geschrieben. Er schildert die Geschichte des Protagonisten Randall Patrick McMurphy, der sich als psychisch krank ausgibt, um das Gefängnis zu umgehen. McMurphy durchblickt das unmenschliche System der Psychiatrie und erregt Aufsehen, indem er offenkundig gegen die Klinik-Leitung rebelliert. Als es ihm gelingt, mit einer Gruppe psychisch Kranker auszubrechen und eine Bootstour zu unternehmen, ereignet sich Dramatisches. McMurphy wird für alles verantwortlich gemacht, unterliegt dem System und wird bestraft. Als Folge nimmt sich ein anderer Patient das Leben.
Der Roman übte einen starken Einfluss aus – auch im Rahmen der Kritik am Behaviorismus. Dieser lehrte – gestützt auf die Experimente von Iwan Petrowitsch Pawlow –, dass das Verhalten von Lebewesen methodisch erklärbar ist. Dies stellt der Roman durch die menschliche Haltung von McMurphy in Frage. les/wka
«Erlebte den Aufbruch»
Werner: Vor 30 Jahren arbeitete ich als Hilfspfleger in der psychiatrischen Universitäts-Klinik UPD Bern, der Waldau. Ich erlebte dabei die Zeit des Übergangs. Es herrschten noch schlimme Zustände. An einer Teamsitzung nahmen wir uns einmal Zeit und schauten die Krankengeschichten der anwesenden PatientInnen an. Einer von ihnen lebte gerade ziemlich genau seit 50 Jahren in dieser Abteilung. Wir sahen Fotos von ihm, als er noch ein starker junger Mann war, inzwischen war er alt und gebrechlich geworden. Meist stand in den Akten nur «nichts Besonderes». Elf Jahre lang gab es gar keinen Eintrag. Die Patienten – es waren alles Männer – wurden einfach «aufbewahrt». Keine Therapie, jahraus jahrein schraubten sie Telefongeräte in deren Einzelteile auseinander.
Im Jahr 1983 herrschte Aufbruchstimmung. Man sprach von Sozialpsychiatrie. Der Psychiater Luc Ciompi setzte sich dafür ein, dass die PatientInnen auch in ihrem sozialen Zusammenhang behandelt würden. Wohngemeinschaften entstanden, wo soziales Leben geübt werden konnte. Junge PatientInnen sollten gar nicht in Kontakt mit der Klinik kommen. Für sie entstand zum Beispiel die «Soteria» in Bern, eine selbständige Wohngruppe, die über die Grenzen hinaus berühmt wurde. Dies war der Start zur Erneuerung der Berner Psychiatrie.
«Was ist krank?»
Lisa: Ich behaupte, dass unsere Gesellschaft als Gesamtes zusammengehört. Denn ein Mensch mit einer psychischen Krankheit ist genauso ein Mensch wie einer ohne. Es gilt korrekt damit umzugehen. Ich bin froh, dass eine Bewegung wie die der Antipsychiatrie entstehen konnte. Auch wenn das Wort «anti» sehr radikal klingt. Ich finde wichtig, dass es daraus Ergebnisse wie die Sozialpsychiatrie gibt, wo in Gruppen therapiert werden kann. Und inwieweit kann man wirklich sagen, dass jemand «krank im Kopf» ist und ein anderer nicht? Psychisch krank ist auch nicht immer gleich psychisch krank! Als Beispiel möchte ich Vincent van Gogh erwähnen, welcher ebenfalls halluzinierte und sich sogar sein Ohr abschnitt; er prägte unsere Gesellschaft mit seiner Kunst.