Sternenhimmel
August 2015: Ich mit meiner Familie zu viert mit dem Velo unterwegs. Mit nicht viel mehr dabei als zwei Zelten und für jeden Radelnden zwei Velotaschen. Auf dem Weg von Genf nach Cassis – von der Schweiz aus der Rhone entlang ans Mittelmeer.
In gemütlichem Tempo die stetig mediterraner werdende Landschaft zu beobachten; viele charmante, etwas verwahrloste französische Städtchen zu erkunden und sich hie und da von der süssen Versuchung der mit Schokolade gefüllten Blätterteiggebäcken namens «Pain au Chocolat» verführen zu lassen – all diese Erinnerungen sind bildhaft, riechen nach Süden und lassen sich in meinem Kopfkino wie ein Filmstreifen abspulen.
Auf dieser Reise gab es für mich aber einen ganz besonderen Moment, an welchem ich diesen Filmstreifen gedanklich verlangsame und zu welchem ich am liebsten immer wieder zurückspulen würde.
Auf einem Hügel, am Rande des kleinen Fischereihafens in Cassis, an dessen Fusse sich die berühmten Calanques durch Kalkstein schlängeln und in Kieselsteinstränden münden, liegt eine Jugendherberge. Sie leuchtet gelb, sonnengelb. Das Wasser der Calanques ist glasklar, auffallend blau. Eines Abends setzte ich mich auf die Steintreppe vor dem Eingang unseres Zimmers. Die Sonne war schon längst untergegangen, der Mond strahlte in seinem silbernen Licht direkt über mir auf die glatte Oberfläche des sanft rauschenden Meeres. Vom vergangenen hitzigen Sommertag blieb noch etwas Restwärme in den Steinen gespeichert, welche meine Oberschenkelrückseiten wohlig wärmten. Einzig meine blossen Füsse sehnten sich nach einer warmen Decke.
Ausser mir schien niemand mehr wach zu sein. Bei einlullendem Meeresrauschen genoss ich ganz allein diese Seelenruhe, diese Stille. Noch nie hatte ich so lange in den Himmel geschaut – einfach nur Sterne beobachtend. Noch nie hatte ich so viele funkelnde Himmelskörper gesehen. Und selten hatte ich ein solches Vertrauen gefühlt. In meinem Bauch. Zu mir. Für die Zukunft – was auch immer mich erwarten mag.
Berns stille Gassen
Das Münster ist vollbesetzt. Weihnachtsabend – einer der Gottesdienste, welche die Menschen noch anziehen. Lichter, Lesungen, Worte, Musik, vertraute Lieder – ich fühle mich warm und geborgen. Nun strömen alle hinaus in die Nacht. Es ist kurz nach elf. Draussen auf dem grossen Platz stehe ich still, warte, bis sich alle verstreut haben. Ich habe mir vorgenommen, diese Nacht auf den Strassen und in den Gassen Berns zu verbringen. Die Nacht ist kalt, doch Thermowäsche und ein warmer Mantel werden mich schützen.
Ich gehe ziellos vor mich hin. Es ist still. Ein grosser Kontrast zur Betriebsamkeit der letzten Tage. Gedankenfetzen vom vergangenen Tag kreisen noch in meinem Kopf. Zwei Menschen überqueren die Strasse. Von weitem ein vorüberfahrendes Auto. Ich sehe Lichter an den Fenstern. Menschen feiern Weihnachten, als Familien oder allein, glücklich oder bedrückt. Ein bisschen beneide ich sie um ihre warme Wohnung.
Von weitem schlägt es zwölf. Andere Glocken stimmen ein. Auch das Münster mit seinem tiefen Bass. Die Töne verklingen – wieder ist es still. Ich stehe jetzt auf der grossen Brücke. Die Zahl 143 leuchtet auf. Ein Hilfsangebot für verzweifelte Menschen, die sich von dieser Brücke stürzen wollen. Ich hab es gut. Ich kann jederzeit nach Hause in die wärmende Stube. Viele können es nicht. Die Weihnachtsgeschichte taucht wieder in mir auf, die im Münster gelesen wurde. Suche nach Herberge – auch heute, in dieser Nacht: Obdachlose, Menschen auf der Flucht, unterwegs wie ich jetzt, nur ohne die Möglichkeit heimzugehen. Mich friert. Gerade torkelt ein Einzelner um die Ecke. Hat sich wohl die Einsamkeit mit Alkohol erträglich gemacht.
Unten an der Aare: Der Fluss rauscht leise vor sich hin. Ausser dem heiseren Schrei einer Ente nur Stille. Ich liebe diese Stille. Die Betriebsamkeit um das Weihnachtsgeschäft, es erscheint mir hier absurd. Noch ein paar Minuten stehe ich am Fluss, atme die feuchte Luft, lausche dem leisen Rauschen des Wassers und der grossen Stille, die es umhüllt. Eine Glocke schlägt zwei. Erst zwei Uhr! Er wird lange gehen bis zum Morgen.
Es wird kalt. Ein Grog wäre jetzt gut, für den Körper, fürs Gemüt. Ich geh weiter, hinauf zur Altstadt, streife durch die engen, kühlen Gassen. Solange ich gehe, geht es mir gut. Eine ältere Frau kommt mir entgegen, geht vorbei. Wir lächeln uns zu. Sonst kein Mensch. Es schlägt drei. Mein Vorsatz, bis zum Morgengrauen zu bleiben, kommt ins Wanken. Halte ich durch?
Können Gedanken tönen?
Für mich hat Stille so manches Gesicht. Sie geht über die Abwesenheit von Schallwellen hinaus. Um mich herum kann es krachen, poltern oder donnern. Und trotzdem kann es in meinem Innern gedanklich ruhig und still sein. Doch an gewissen Tagen helfen weder Ohrenstöpsel noch tiefes Durchatmen oder ruhiges Dasitzen. So kam ich eines Abends müde aus der adventlichen Betriebsamkeit nach Hause. Ich hatte das Bedürfnis nach Ruhe, nach Stille. Doch der Stille einen Raum schaffen, wenn Gedanken diese zu untergraben drohen, ist manchmal eine Kunst. Akustisch zwar nicht wahrnehmbar, kann es sich trotzdem anhören, als ob Gedanken tönen könnten. Die Wahrnehmung der Stille wird vom Denken an gestern und an übermorgen überlagert. Von diesem gedanklichen Hüpfen von hinten nach vorne. Von diesem Vermischen von Zukunft und Vergangenheit.
Da wehten mir die weihnachtlichen Gerüche aus der Küche in mein Zimmer. Sie halfen mir, dieses Herumhüpfen in ein Herumschnüffeln zu verwandeln. Weihnachtsdüfte sind willkommene Lockboten. Was gibt es Schöneres als der süssliche Zimtstern-Duft nach einem Punsch? Oder die nussig-schokoladigen Duftschwaden, welche einem beim «Güetzelen» vom Backofen entgegenströmen? Gelobet seien alle weihnachtlichen Düfte.
Eine Kirche im Burgund
Es gab eine Zeit, da war ich noch fit für grössere Velo-Touren. So machten meine Frau Dora und ich uns eines Tages auf zu einer Fahrt ins Burgund. Über den Lac de Joux, dann dem Doubs entlang, über weite Felder, vorbei an einsamen Höfen, ländlichen Dörfern, selten ein kleines Städtchen. Und schliesslich kamen wir in Tournus an. Eine mächtige, uralte Kirche lockte uns gleich zu einem Aufenthalt. Es war die Abteikirche Saint-Philibert, eine romanische Kirche aus dem frühen 11. Jahrhundert.
Wir traten ein und blieben hinten im Kirchenschiff stehen. Wir waren allein hier. Der Duft der Steine umgab uns. Und eine grosse, tiefe Stille. Die stämmigen Säulen und das romanische Gewölbe schufen einen unbeschreiblichen Raum. Aber was mich am meisten beeindruckte, war der gewaltige Gegensatz zur bewegten Welt, aus der wir kamen. Draussen das Leben, die Bewegung, die Geräusche – hier die tiefe Stille. Draussen die Natur – hier das Erhabene, der Geist. Es schien, als wäre die Zeit stillgestanden. Es ist den mittelalterlichen Architekten gelungen, eine von aller Betriebsamkeit gesonderte andere Welt zu schaffen, in welcher ich aufgerufen werde, zu mir selbst zu finden.
Selbst wenn eines Tages niemand mehr sich zum Christentum bekennen sollte, die Baukunst des Mittelalters wird uns weiterbewegen, uns berühren, uns zu uns selber führen. Schade, dass heute viele dieser Kunstwerke den gaffenden Horden des Tourismus ausgeliefert sind. Sie erfahren, wer wann welchen Stein gesetzt hat. Am Wesentlichen des Bauwerks gehen sie vorbei.