
Die Vögel zwitschern und die dürren Blätter vom letzten Herbst rascheln bei jedem Schritt. Auf Waldwegen zwischen Huttwil und Burgdorf schreiten zwei Frauen dahin. Eine trägt einen grossen Rucksack mit allem, was sie für eine mehrtägige Wanderschaft benötigt. Die andere trägt leichtes Gepäck für eine Tagestour. Die beiden Frauen lernen sich gerade erst kennen.
Alex berichtet Erika von einem besonderen Erlebnis auf ihrer bisherigen Reise.«Die Gastgeberin der gestrigen Unterkunft meinte am Telefon, es sei kompliziert, ihr Haus zu finden und sie komme mich deshalb abholen. Kurze Zeit später tauchte sie auf ihrem alten, zu einem Elektrovelo umgebauten, Drahtesel auf. Ich solle auf den Gepäckträger sitzen, sie wolle mich nicht mehr so weit laufen lassen. Der alte und schwache Motor beschwerte sich lautstark über unser Gewicht. Wenn es bergauf ging, mussten wir beide absteigen. Die Fahrt war eine lustige Abwechslung nach meinem dritten Tag auf den Beinen. Die Nacht verbrachte ich in einem umgebauten Gartenhäuschen mit eigener Küche, einem Himmelbett und sogar einem Schwedenofen. ‹Du musst gut einfeuern, damit du in der Nacht nicht kalt hast›, empfahl mir meine herzliche Gastgeberin. Wir unterhielten uns lange, während sich ihr Hund an mich schmiegte. Nach kurzer Zeit war ich von Kopf bis Fuss voller weisser und schwarzer Hundehaare und sah selbst aus wie ein Hund. Meine Gastgeberin stellte mir selbstgebackenenen Apfelkuchen und Brot sowie andere Leckereien bereit. Am Abend schlug ich mir den Bauch voll und feuerte leidenschaftlich den Ofen ein. Dreimal legte ich Holz nach. Als ich mich bettfertig machte, war es sehr, und ich betone ‹sehr›, heiss in dem kleinen Gartenhaus. Schlussendlich verbrachte ich die Nacht bei geöffneten Fenstern und Türen.»

Das Mittagessen nehmen Alex und Erika auf einem gefällten Baumstamm ein. Sie teilen sich den Apfelkuchen und das Brot, das die Gastegeberin Alex mit auf den Weg gegeben hat. Köstlich!
Auf klassischen Pfaden
Im Gespräch stellen sie erstaunt fest, dass beide denselben Weg auf Schusters Rappen zurückgelegt hatten: den klassischen Jakobsweg im Norden Spaniens, den «Camino Frances» nach Santiago de Compostela.
Alex war im März/April 2018 während fünf Wochen auf dem Camino Frances unterwegs. «Für mich war klar: ich will diesen Weg alleine gehen. Der Anfang war hart. Bereits am dritten Tag hatte ich in beiden Fersen stark entzündete Sehnen, so dass ich kaum noch in meine Wanderschuhe reinkam. Ich trug deshalb etwa zehn Tage lang Crocs, eine Art Gummigartenschuh, und über den Socken Plastiksäcke, bis ich wieder meine Wanderschuhe anziehen konnte. Ich durfte sehr viele tolle und inspirierende Menschen aus aller Welt kennenlernen. Ich wanderte nur wenige der insgesamt etwa 750 Kilometer Seite an Seite mit andern. Der Camino war für mich eine Lebensschule und für diese Erfahrung bin ich zutiefst dankbar. Ich fand auf dieser Reise meine Verbindung zur Spiritualität, die ich seither tagtäglich pflege.»

Erika pilgerte im Sommer 2005 während viereinhalb Wochen mit ihrer Schwester auf dem Camino. «Wir waren in den Fünfzigern und hatten bis dahin jahrzehntelang kaum Kontakt gepflegt. Nun wollten wir uns neu kennenlernen und fanden uns überraschend sympathisch. Jeden Abend massierten wir uns gegenseitig die Füsse. Wir wanderten bis Fisterra, badeten im Atlantik und kehrten glücklich nach Hause zurück.»
Was fasziniert am Pilgern?
Die beiden Frauen sind sich einig, dass sie beim Pilgern den Moment bewusster wahrnehmen. Sie lassen Vergangenes hinter sich und wissen nicht, was kommt. Der Weg ist vorgegeben. Die gelbe Jakobsmuschel weist bei jeder Weggabelung die Richtung und die Welt entschleunigt sich sofort. Die Reduktion auf das Allernötigste empfinden beide als befreiend. Ihnen ist klar, dass sie gerade heute nicht ganz bewusst einen Fuss vor den andern setzen, sondern sich im Gespräch auch mit Ereignissen und Themen aus der Vergangenheit beschäftigen.
Alex: «In mir brennt ein Feuer fürs Wandern. Und wenn der Frühling kommt, dann zwickt`s mich so richtig in den Füssen. Der Verzicht auf Komfort während dem Pilgern tut mir gut und hilft mir, mich auf die wichtigen Dinge in meinem Leben zu besinnen. Ich fühle mich mir am nächsten und spüre intensiv, dass ich Teil eines grossen Ganzen bin.»
Erika: «In Spanien war jeder Tag voller Überraschungen. Vorstellungen und Erwartungen erfüllten sich praktisch nie. Wir wussten zum Beispiel nicht, ob wir die nächste Nacht in einer Halle mit 100 Schlafplätzen oder in einem Zweierzimmer mit komfortablen Betten verbringen würden. Manchmal fragten wir uns, warum wir uns das antun, aber die schönen Momente überwiegten bei Weitem.»

Die Macht der Gedanken
Alex, bewaffnet mit einem Robidog-Säcklein, bückt sich von Zeit zu Zeit nach einem weggeworfenen Zigarettenpäckli, nach Plastikstücken oder Petflaschen. Erika beteiligt sich ebenfalls und bis Burgdorf landen vier prall gefüllte Tüten in Abfallkübeln. Gemäss dem Spruch: «where your focus goes, energy flows» (zu Deutsch: «Energie fliesst dorthin, worauf sich unsere Gedanken richten.»), versuchen die beiden Wanderinnen, sich nicht über die Verschmutzung zu ärgern, sondern etwas dagegen zu unternehmen.
Zum Thema, welche Kraft Gedanken haben können, erzählt Erika von einem prägenden Erlebnis: «Dreimal nahm ich an einem Feuerlauf teil. Dabei läufst du mit nackten Füssen über einen glühenden Holzkohleteppich von über 500 Grad. Natürlich klappt das nicht einfach so. Unter Anleitung bereiten sich die Teilnehmenden vor, sich ganz auf ihr Ziel fokussieren zu können. Beim dritten Mal nahm ich die Sache auf die leichte Schulter und zog mir prompt Brandblasen zu, aber nur an einem Fuss. Damals bewunderte ich ein Pärchen, das Hand in Hand über den Glutteppich schritt, stehen blieb, sich umarmte und gemütlich weiterging. Ihre Füsse blieben unversehrt.»
Tagesziel geschafft!
Erika bleibt abrupt stehen und zeigt auf ein Eichhörnchen. Die beiden Frauen verharren bewegungslos und das Tierchen geht weiter seinen Geschäften nach, saust flink den Baumstamm hoch und springt von Ast zu Ast. Im Laub raschelt es und husch, eine Maus verschwindet in ihrem Loch. Milane und Bussarde kreisen am Himmel.

Die Etappe umfasst 24 Kilometer und die Kräfte müssen gut eingeteilt sein. Die beiden Frauen legen auf jeder freien Bank, die am Wegrand steht, eine Pause ein. Bei schöner Aussicht versuchen sie, die Berner Berggipfel zu benennen. Mit vereinten Kräften und der Hilfe von Freund Handy gelingt das Unterfangen schliesslich. Dank der vielen Pausen und anregenden Gesprächen meistern sie die herausfordernde Etappe und erreichen müde, aber glücklich ihr Tagesziel Burgdorf.