Vor einigen Wochen sind die neuen Rekruten erstmals eingerückt. Als Späher in Bière ist der ehemalige Gymnasiast Hannes Reusser (19) einer von ihnen und zurzeit mit den Eigenheiten der Schweizer Armee konfrontiert. Differenziert schildert er seine Eindrücke von Kollektivbestrafungen, Kameradschaft und ewigem Stehen in der Ruheposition.
Ebenfalls im unfreiwilligen Dienst für den Staat absolviert Elias Rüegsegger (24) zurzeit die zweite Hälfte des Zivildienstes in einer Getreidemühle. Er vergleicht diese Tätigkeit mit seinem früheren Engagement in einem Asyldurchgangszentrum so: «Teamwork ist bei beiden Einsätzen wichtig. Es geht um die Arbeit mit Menschen. In der Mühle Schönenbühl werden junge Menschen in die Arbeitswelt integriert – aber auch das Handwerk steht im Zentrum.»
Die Hintergründe
Als Verantwortliche für den Vollzug von Militärgerichtsurteilen (Verurteilung zu gemeinnütziger Arbeit) anfangs der 90er-Jahre ist Doris Widmer (57) eine überzeugte Befürworterin des Zivildienstes. Ab 1996, dem Einführungsjahr des Zivildienstes, war sie vier Jahre lang dessen Leiterin der Regionalstelle Bern.
Der Historiker und Familienvater Michael
Gerber (50) entging in
den 80er-Jahren auf dem sogenannt blauen Weg der Armee und betätigte sich im
Zivilschutz. Aufgrund persönlicher Ansichten und Wertvorstellungen entschloss
er sich damals, zum Psychiater zu gehen, um keinen Militärdienst machen zu
müssen. Zu keinem Zeitpunkt habe er es bereut, diesen Weg eingeschlagen zu
haben.
Ungern habe er den Dienst geleistet, aber immerhin könne er auf eine makellose Bilanz an Diensttagen als Soldat – später Gefreiter – schauen. Heinz Gfeller (69) ist 1969 in Genf eingerückt und beobachtet seither die Schweizer Armee kritisch aus der Distanz.
Und ich begann direkt nach der Matura im letzten Sommer mit dem Militärdienst als Infanterist in Chur und kann auf eine anfangs anstrengende, schlussendlich aber ereignis- und erfahrungsreiche Rekrutenschule zurückblicken.
Kameraden sind wichtig
Im Gespräch mit Hannes Reusser merke ich, wie ähnlich seine Rekrutenschule der meinen ist. Vor allem das gegenseitige Helfen und die Kameraden bezeichnet er als eine Bereicherung in dieser Zeit. Man muss im Militär permanent gehorsam sein, was viele reizt, die engen Grenzen etwas zu dehnen, beispielsweise ungenaue Befehle absichtlich falsch zu interpretieren. Die militärische Hierarchie und Befehlskultur lenken den Einzelnen vom Hinterfragen und Reflektieren ab, meint Michael Gerber. «Wir lernten während der gesamten Schulzeit, uns unsere eigenen Gedanken und Meinungen zu bilden, was in der Armee gar nicht gefragt ist». Dies sei ein Grund gewesen, warum er die Dienstpflicht nicht erfüllen wollte. «Damals gab es ja wohlgemerkt noch keine Alternative wie den Zivildienst.» Dienstverweigerer kamen ins Gefängnis. Auf dem blauen Weg konnte er dem ausweichen.
«Wir lernten während der
Michael Gerber
gesamten Schulzeit, uns unsere eigenen Gedanken und
Meinungen zu bilden, was in
der Armee gar nicht gefragt ist.»
Froh darüber, dass diese Zeiten vorbei sind und man mit dem Zivildienst eine – wenn auch zeitlich viel intensivere – Alternative hat, ist auch Elias Rüegsegger: «Als klaren Armeegegner schrecken mich militärische Dynamiken und reine Männergruppen ab.» Er habe einfach nie das Gefühl gehabt, dass er die RS erlebt haben müsse. «Dann mache ich lieber etwas, von dessen Sinn ich wirklich überzeugt bin.»
Ob er sich ohne Armee nicht unsicher fühlen würde? «Es ist eher umgekehrt. Es wird mir unwohl, wenn Rekruten mit Waffen und Uniform am Bahnhof stehen.»
Zivildienst: Echte Alternative?
Dass der Zivildienst eineinhalb mal so lange dauert wie der Militärdienst, mache ihn nicht zu einer wahren Alternative, meint Doris Widmer. Es gebe dafür keinen ersichtlichen Grund, ausser dass die Armee ihre Bestände behalten möchte. Anstatt die Attraktivität der Armee zu steigern, schwächen PolitikerInnen aus dem rechten Lager den Zivildienst. Ein Dienst, von dem die Gesellschaft enorm profitiert und in dem junge Männer sinnstiftende Einsätze leisten.
Michael Gerber findet, aus Gründen der Gleichberechtigung, die einseitige Dienstpflicht nur für Männer jenseits von Gut und Böse und staunt, dass dieser offensichtliche Missstand in unserer Gesellschaft kaum diskutiert wird. Das «und»-Gespräch zeige aber laut Michael Gerber, dass die jungen Männer heute entweder dem Militär den Rücken kehrten oder die fast rein männliche «Lebensschule» durchaus als sportliche und mentale Herausforderung schätzten. Die jungen Frauen seien offensichtlich an einer entsprechenden Diskussion überhaupt nicht interessiert.
So unterschiedlich unsere Standpunkte sind, in unseren Prognosen haben wir dieselbe Meinung: Auch in zehn Jahren ist die Schweizer Armee wahrscheinlich noch eine Milizarmee. Das System funktioniere an sich und es sei stark an Wirtschaft, Staat und Gesellschaft gebunden. So würden sämtliche strukturellen Veränderungen wohl leider erst mal einen schweren Stand haben. Heinz Gfeller blickt hoffnungsvoll in die Zukunft: «Ich wünsche mir, dass engagierte Junge vermehrt für ihre Anliegen Gehör finden.» Die Dienstpflicht ist ein Thema mit vielerlei Diskussionspotential, das so schnell nicht vom Tisch ist.
So funktioniert das System: Junge Schweizer Männer müssen – meist im Jahr der Volljährigkeit – die zwei- bis dreitägige Rekrutierung absolvieren, wo ihre psychischen, kognitiven, medizinischen und physischen Fähigkeiten und Eigenschaften sowie soziale Kompetenzen geprüft werden. Das Ziel ist eine Einordnung der Person in «militärdiensttauglich», «zivilschutztauglich» (einmal untauglich) und «untauglich für Militärdienst und Zivilschutz» (doppelt untauglich). Letztere zahlen dem Einkommen angepasst Militärpflichtersatz. Die Militärdiensttauglichen können zwischen dem Militärdienst (meist 262 Tage) und dem Zivildienst (etwa 390 Tage) wählen. Zivilschutzleistende leisten während 20 Jahren mindestens zwei Diensttage pro Jahr. Je mehr Diensttage sie absolvieren können, desto weniger Militärpflichtersatz zahlen sie. dle