«Hallo, wir kennen uns doch». – «Ja, aber woher wohl?» – «Es ist halt schon lange her»…
In solchen Situationen muss ein alter Mensch manchmal dem Gedächtnis mit List nachhelfen. Fragen stellen, um mehr zu erfahren, bis dann das Gehirn schaltet. Aber da ich nicht weiss, ob wir uns früher geduzt haben, und mein Gegenüber offenbar in der gleichen Lage ist, vermeiden wir sowohl das «Sie» als auch das «Du». Wir reden umständlich um den Brei herum, bis sie schliesslich fragt: «Sind wir eigentlich per Du miteinander?» – Hätte ich ja auch schon früher fragen können!
Ja, das «Du» und «Sie» kompliziert gelegentlich die Situation. Andererseits gibt es auch die Möglichkeit, mit Nähe und Distanz zu spielen. Das hat auch seinen Reiz. Aber das nehme ich mir vor: Lieber Klarheit schaffen als peinlich um den Brei herumzureden.

Ich sitze im Zug und lese ein Buch. Plötzlich spricht mich der ältere Herr gegenüber an: «Dein Buch sieht sehr interessant aus.
Um was geht es denn? Gefällt es dir?»
Ich schaue überrascht von dem Buch auf und meinem Gegenüber ins Gesicht. Die Zahnräder rattern im Gehirn. Da hat mich jemand angesprochen – es ist ein älterer Herr – er hat mich geduzt – wieso? – Seh ich aus wie ein Kind? Das sind die Gedanken, die mir zeitgleich durch den Kopf schiessen.
Während ich die Frage freundlich beantworte und dem interessierten Herrn mein Buch reiche, überlege ich, ob ich mir wohl ebenfalls die Frechheit herausnehmen soll, ihn mit «Du» anzusprechen. Ich lasse es dann aber doch sein. Wenn ich höflich betont das «Sie» brauche, fällt ihm sein Fauxpas vielleicht auf. Andererseits ist dieser Mann seit mindestens vierzig Jahren gewohnt, mit «Sie» und «Herr Sowieso» angesprochen zu werden, und es würde ihm nicht auffallen. Meiner Erfahrung nach sind ältere Menschen sehr darauf bedacht, zu siezen und gesiezt zu werden, Herr und Frau Soundso zu sein und erst nach zwanzig Jahren Nachbarschaft zum «Du» zu wechseln. Wahrscheinlich hätte er es als Affront verstanden.
Die Frage bleibt, warum der Herr beschlossen hat, mich geradewegs zu duzen. Erachtet er mich nicht als «erwachsen» und deshalb des «Sie» nicht würdig? Oder begegnet er Menschen generell immer mit «Du»? Was auch immer seine Motivation ist, es wirkt herablassend auf mich: Ich werde behandelt wie das Kind, das ich eigentlich nicht mehr sein will. Langsam scheine ich mich an das Gesiezt-Werden zu gewöhnen. Trotz des Altersunterschiedes möchte ich dem Herrn auf «Augenhöhe» begegnen können; wir werden über mein Buch diskutieren, uns dann verabschieden und vermutlich nie wieder sehen. Da können wir auch gegenseitig «höflich distanziert» bleiben.
Seltsamerweise verhält es sich unter jungen Menschen gerade umgekehrt. Hätte mich eine gleichaltrige Person auf mein Buch angesprochen, es wäre mir albern vorgekommen, gesiezt zu werden. Wir pflegen untereinander eine viel lockerere und offenere «Du»-Kultur, und es käme niemandem in den Sinn, sich seinen MitstudentInnen oder neuen Bekannten als «Frau Steiner» und «Herr Müller» vorzustellen. Manchmal frage ich mich, ob sich das ändern wird. Ob wir uns mit Dreißig oder Vierzig siezen werden, oder ob der Trend anhält und wir auch dann noch «Du» sagen. Ist es eine Alters- oder eine Generationenfrage? Wir werden sehen.

Ich liebe den Schadaupark. Wieder einmal sitze ich auf einer Bank und bestaune die Wolken rund um Jungfrau, Mönch und Eiger.
Eine junge Frau setzt sich neben mich und packt ihr Sandwich aus. Es scheint kompliziert zu sein. Mayonnaise tropft über ihre Finger. Plötzlich fragt sie mich: «Sorry, hast du mir ein Taschentuch?». «Klar», sage ich und reiche es ihr.
Soweit der äussere Vorgang. Kein Problem. Aber in mir, da geht etwas vor. Eigentlich frech, denke ich, so eine junge Person. Mir gegenüber, bin doch immerhin 77. Kennt sich wohl nicht so aus in den Umgangsformen. Erinnert mich an «Häsch mer en Schtutz?». Kommt sie vielleicht aus diesen Kreisen? Sieht nicht so aus. Aber eigentlich – warum so kompliziert? Sind doch recht willkürlich, diese Regeln. Ja, und das sollte mich doch nicht um die Gelegenheit bringen, mit einem jungen Menschen, der anders empfindet als ich, ein Gespräch zu führen!

Am Ende der neunten Klasse bot
unser Klassenlehrer uns das «Du» an.
Diese Änderung brachte die ganze Klasse ziemlich ins Schwitzen. Es ist ein Kompliment, den Klassenlehrer duzen zu dürfen. Wir waren unglaublich stolz darauf: Es zeigte uns, wie gross und erwachsen wir waren, wir hatten schliesslich die obligatorische Schulzeit absolviert. Gleichzeitig waren nach drei Jahren das «Grüessech» und «Herr Nyffenegger» schon so eingebrannt, dass wir uns an diesem letzten Tag kaum umgewöhnen konnten. Es brauchte Anstrengung, sich an die Erlaubnis zum Duzen zu erinnern, und ausserdem fühlte es sich seltsam an: Er war ja immerhin der Klassenlehrer, und trotz all unseren Streichen und dummen Sprüchen eine Autoritäts- und Respektperson geblieben. Das «Du» wirkte da viel zu freundschaftlich und fehl am Platz. Kurz vorher hatte meine Klavierlehrerin «Duzis gemacht», schon das war schwierig. Während mindestens eines halben Jahres hatte ich tunlichst vermieden, sie direkt anzusprechen und war immer auf unpersönliche und indirekte Formulierungen ausgewichen. Irgendwann hatte sich der Knoten gelöst und das «Du» fühlte sich nicht mehr seltsam an. Wahrscheinlich hätte es sich bei meinem Klassenlehrer ähnlich verhalten, wenn ich ihn nach der Schule ab und zu gesehen hätte.
So seltsam wie die Situation also geblieben ist, wäre mir noch immer recht unbehaglich zu Mute, wenn ich ihm in der Stadt über den Weg laufen würde.

Ich bin Neumitglied beim UND.
Vor kurzem habe ich mich als Mitglied bei UND angemeldet. Natürlich per «Sie». Man weiss ja nicht, wer die E-Mail entgegen nimmt und wie es in diesem Kreis üblich ist. Natürlich kam auch die Antwort per «Sie». Und so noch zwei E-Mails hin und her: Herr Rüegsegger, Herr Kaiser, Herr Rüegsegger, Herr Kaiser… Ein paar Tage später soll ein Treffen stattfinden, um sich kennen zu lernen. Würde das «Sie» wohl weiter gelten? Wir entdecken einander am Bahnhof, und ohne Überlegen ist alles klar: «Hallo, Elias» – «Hallo, Werner».
Übrigens: Ich merkte bald, dass bei UND alle per «Du» sind. Mir ist wohl dabei. Es ist weniger umständlich und fördert das Zusammengehörigkeitsgefühl.

Und wie war das eigentlich früher?
Im Altertum gab es nur eine einzige Anredeform. Erst im 8. Jahrhundert ist eine zweite nachgewiesen: die Ihr-Form. Mit «Ihr» sprach man FürstInnen und ganz allgemein WürdenträgerInnen an. «Seid Ihr bedient, Euer Gnaden?» Die Ihr-Form galt noch viele Jahrhunderte auch innerhalb der Familie. «Wann kommt Ihr zurück, Vater?»
Eine andere Form, die später in Gebrauch kam, um WürdenträgerInnen hervorzuheben, war der «pluralis majestatis». Wer ihn benutzte, sprach von sich in der Mehrzahl. Man ist ja wohl zweimal so viel wert wie ein Gewöhnlicher. So drückte sich auch der Papst noch vor wenigen Jahren in seinen Verlautbarungen aus: «Wir erklären heute feierlich …»
Vor der französischen Revolution gab es auch die Form «Er». Sie wurde von den Höherstehenden dem Dienstpersonal und andern Untergebenen gegenüber gebraucht: «Bringe Er mir den Hut».
Die französische Revolution am Ende des 18. Jahrhunderts wollte die Gleichheit aller Bürger und Bürgerinnen betonen. Man führte zu diesem Zwecke das «Sie» für alle ein (französisch «vous»). Gleichzeitig führte man die Anrede Herr, Frau und Fräulein ein. Diese sollten nun für alle gleichermassen gelten, im Sinne des bürgerlichen Programms «Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit». Adelige behielten allerdings noch längere Zeit die alten Formen bei.
In den Sechzigerjahren des vergangenen Jahrhunderts verbreitete sich in vielen gesellschaftlichen Schichten das allgemeine «Du», auch diesmal, um Standesunterschiede herunterzuspielen. Das ist mit Ausnahme bestimmter Kreise wieder verschwunden. Interessant ist, dass im Berndeutschen sich bis heute das «Ihr» erhalten hat. Es wirkt weniger distanziert als das in der übrigen Schweiz geltende «Sie». (wka, Quelle: Wikipedia)
Andere Sprachen, andere Sitten
Im deutschen Sprachraum gibt es einen sehr deutlichen Unterschied zwischen der Höflichkeitsform (Sie) und dem gewöhnlichen «Du». Anhand des «Sie» oder «Du», mit dem wir jemanden ansprechen, kann ein unbeteiligter Mensch sich schon einen Reim auf die Beziehung zwischen den beiden Personen machen.
Andere Sprachen kennen keine «Sie»-Form. Das berühmteste Beispiel ist die englische Sprache. «You» wird für das eigene Kind wie auch für den Chef verwendet. Selbst die Queen wird mit «YOUR majesty» angesprochen. Anstelle des höflichen «Sie» werden im Englischen zahlreiche Floskeln und indirekte Formulierungen verwendet, um eine höflich-distanzierte Unterhaltung von der familiären Sprache abzugrenzen.
Im alten Englisch wird als «Du»-Form das «Thou» verwendet. So spricht sich bei Shakespeare das Fussvolk mit «Thou» an, während das «You» den Adeligen und Reichen vorbehalten ist. Heute wird die «Thou»-Form nur noch im Gebet Gott gegenüber verwendet.
Ein weiteres Beispiel ist die spanisch-sprachige Welt: Obwohl es im Spanischen mit «ustedes» ein Pendant zum «Sie» gibt, verwenden die Leute eher die «Du»-Form. Zudem begrüssen sie selbst flüchtige Bekannte viel eher mit Wangenküsschen anstatt mit Handschlag.
In Schweden wird sogar nur der König gesiezt. (ans)
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