Dokumentarfilm «Egoisten»
Krieg, Katastrophen, Krankheiten oder eine Hungersnot – humanitäre Helfer sind Extremsituationen ausgesetzt. Sie arbeiten in den entlegensten Gebieten der Welt, wo sie manchmal nahezu unmögliche Aufgaben bewältigen. Etwas zurückhaltender sind sie, wenn sie Einblick in ihr Innenleben geben sollen.
Im Film werden 40 humanitäre Einsatzkräfte und ihre Angehörigen vorgestellt, die über ihre Einsätze, Risiken, Machtlosigkeit, Begegnungen und die Rückkehr erzählen.
Losgelöst vom jeweiligen Einsatzgebiet, zeichnet der Film ein sehr persönliches Bild von den porträtierten Helferinnen und Helfern. Mal bereitwillig, mal zögerlich, aber immer offen und aufrichtig erzählen sie über die Beweggründe für ihr Engagement, ihre Zweifel, ihre Schwächen und die Bilder, die sie verfolgen.
«Im Film «Egoisten» geht es um die Frage, ob humanitäre
Helfer Egoisten sind.»
Ganz unterschiedliche Beweggründe zeichnen sich ab. Für den einen war die Aussicht, anderen zu helfen, eine Faszination, die ihn schon sein ganzes Leben begleitete. Die andere wollte einfach im Ausland arbeiten. Sie folgen alle dem Weg mitten ins Leid, um zu helfen, weil sie nicht anders können. Fast besessen sind sie vom Drang, mit ihrer humanitären Hilfe zu wirken in der Welt.
Was halten denn diejenigen davon, die mit ihnen Bett und Tisch zuhause teilen? Eine Familie haben und dabei oft ohne ihre PartnerInnen leben müssen? Die Frage nach Egoismus ist aus der Sicht der Angehörigen vielleicht nachvollziehbar. Sind sie es doch, die zurückbleiben, die manchmal wochenlang nichts von ihren Liebsten hören und mit ihren Ängsten allein sind.
Das Engagement jedes einzelnen Helfers hat andere, individuelle Ursprünge. Bei den einen ist es heiliger Zorn, bei anderen das Empfinden von Ungerechtigkeit. Wieder andere können das Nichtstun nicht aushalten. Doch die Quelle der Motivation der Helfer ist den Hilfsbedürftigen völlig egal. Hauptsache, es ist jemand da, jemand, der hilft.
Interview mit Otmar Halfmann
Damit das Pflegepersonal der Ärzte ohne Grenzen arbeiten kann, braucht es Logistiker, die dafür sorgen, dass der Zugang zu medizinischer Versorgung für die Menschen gewährleistet wird und sicher ist. Wir haben Otmar Halfmann, einen dieser Logistiker getroffen, nachdem wir den Film «Egoisten» geschaut haben.
Cornelia: Vielen Dank, dass du dir Zeit nimmst, mit uns über deinen Einsatz zu sprechen. Im Film «Egoisten» geht es um die Frage, ob humanitäre Helfer Egoisten sind. Dort wo die echten Probleme in der Welt sind, handeln zu wollen, mag für die Angehörigen manchmal egoistisch wirken. Wie sieht es damit bei dir aus?
Otmar: Es gibt nicht eine Antwort. Die Motivation entspringt verschiedenen Quellen. Mein letztjähriger Einsatz hat mit meinem Engagement vor vielen Jahren zu tun. Für eine deutsche Hilfsorganisation war ich damals acht Jahre in Sambia tätig, dies unmittelbar nach Ende des Bürgerkriegs im heutigen Zimbabwe, der auch alle Nachbarländer in Mitleidenschaft gezogen hatte. Über Jahre war der Schwerpunkt meiner Arbeit die Organisation und Durchführung der Transporte von Hilfsgütern, vorrangig Getreide, dies nicht nur für Sambia, sondern auch für Malawi. Nachdem mein Vertrag 1987 auslief, beschlossen meine Frau, die aus Zimbabwe stammt, und ich, unsere Kinder in der Schweiz grosszuziehen. Allerdings behielt ich die Option in meinem Hinterkopf, nach der Pensionierung erneut eine humanitär ausgerichtete Aufgabe in einem Krisen- oder Katastrophengebiet zu übernehmen. Das war dann letztes Jahr – für Médecins sans frontières/MSF im Südsudan – soweit.
Cornelia: Ein solches Risiko einzugehen, gleicht oft dem Spiel mit dem Tod. Woher kommt das?
Otmar: Ich stamme selbst aus einer Flüchtlingsfamilie und habe vermutlich ein übersensibles Gerechtigkeitsgefühl. Als Kind schon schien ich zu wissen, dass ich mich in meinem Leben für Schwächere einsetzen wollte. Meine Intention war zu helfen, Veränderungen zu provozieren oder Ungerechtigkeiten aufzudecken und nicht nur im luftleeren Raum zu handeln und in den Wind zu sprechen.
Cornelia: Ist es deiner Ansicht nach egoistisch, diesem inneren Impuls oder dieser Absicht zu folgen?
Otmar: Nein, ganz und gar nicht. Es geht darum, Barmherzigkeit wirklich zu leben.
«Niemand zeigt wirkliches Interesse für deinen Einsatz.»
Otmar Halfmann
Cornelia: Am meisten beeindruckte mich im Film die Tatsache, mit wie viel Unverstanden-Sein die Einsatzkräfte der MSF in ihrem heimischen Umfeld zu rechnen hatten. Niemand kann offenbar nachvollziehen, was es heisst, wirklich an der Front zu sein. Das habe ich vor vielen Jahren bei meiner Rückkehr aus Guatemala genau so erlebt. Die Schweiz, meine Familie, Freunde, alles war mir fremd. Wie ging es dir damit?
Otmar: Genauso. Niemand zeigt wirkliches Interesse für deinen Einsatz. Wir leben hier in einer Situation, die noch immer von einer postkolonialen Dividende zehrt. Da gehen viele Menschen auf Abstand, wenn jemand von den echten Problemen spricht oder sie sogar mit den eigenen Augen gesehen hat.
Berührt, beeindruckt, zurückversetzt
Der Film und das Interview machte die zwei Frauen von UND Generationentandem betroffen. Die Bilder und Aussagen erinnerten Cornelia Principi (59) an ihre Zeit in Mexiko und Guatemala in den Jahren 1984 bis 1986 und Geraldine Maier (21) an ihre 19-monatige Reise durchs westliche und südliche Afrika.
Cornelia Principi (59):
Berührend sind die Bilder des Films und die Aussagen der Betroffenen. Der Film ist empfehlenswert. Beeindruckt bin ich von Otmar und seinen Kollegen. Die MSF stellen sich Situationen, die andere vermeiden.
Als ich als junge Frau in Lateinamerika unterwegs war, tappte ich nichts ahnend in Guatemala in den Bürgerkrieg. Es fühlte sich zwar unbehaglich an, aber als Touristin wusste man nicht, was vor sich ging. Die Informationen bekam ich erst viel später. Es wollte niemand glauben, dass Menschenrechtsverletzungen von Militär, Polizei und Geheimdiensten an der Tagesordnung waren. Diese spielten vor allem der indigenen Bevölkerung übel mit. Die Tötung der Mayas nahm das Ausmass eines Völkermords an. Zu weiteren Opfern der Repression gehörten zurückkehrende Flüchtlinge, kritische Studenten, Journalisten und Strassenkinder. Während meines Aufenthalts konnte ich nicht untätig herumsitzen und das Leben in Touristenorten geniessen.
Per Zufall lernte ich einen Amerikaner in einer Bar in Antigua kennen, der bei einer Organisation mitarbeitete, die zum Schutz der Indigenas ausländische Freiwillige einsetzte. Dank deren ständiger sichtbarer Anwesenheit konnten Attentate auf Bewohner von einigen Dörfern wenigstens bei Tag verhindert werden. Gegen diese Herausforderung hatte ich nichts einzuwenden. Fünf Monate lebte ich fortan bei Elena und ihren Kindern, einer Mayafamilie, deren Vater ein paar ausgehungerte Guerilleros fütterte und deswegen im Gefängnis sass. Während sie mir das Weben beibrachte, lehrte ich sie stricken. Wir kochten zusammen und ich begleitete die Kinder überall hin. Nacht für Nacht lag ich allein in meinem Bambushäuschen, während manchmal bewaffnete Militärs um das Dorf schlichen. Diese Monate haben mein ganzes Leben geprägt.
«Wer entscheidet, ob ein Entscheid egoistisch ist?»
Cornelia Principi
Es war nicht mein bewusster Entscheid von zuhause aus, einen Einsatz in einem Kriegsgebiet zu leisten. Es war viel mehr ein Gefühl der Dringlichkeit vor Ort, dem ich nicht ausweichen konnte. Obwohl niemand eine Ahnung hatte, spürte man, dass schreckliche Dinge passierten. Vielleicht war der Entscheid, diesem Gefühl zu folgen, egoistisch. Jedenfalls konnten meine Gefährten nicht nachvollziehen, was ich vorhatte. Für mich hingegen war es unverständlich, wie sich die Reisenden in den Touristenorten weiter amüsierten, so als würde nichts geschehen. Wer entscheidet, ob ein Entscheid egoistisch ist?
Geraldine Maier (21):
Meine Erfahrungen sind auch nicht vergleichbar mit den Szenen und den Erlebnissen aus dem Film. Ich machte eine Reise, keinen humanitären Einsatz. Eine Reise weit weg vom Leid, das im Film zu sehen ist. Die Aussage meines Umfeldes, dass ich viel riskiert hätte, schien mir in Anbetracht der Risiken in Kriegs- und Katastrophengebieten lächerlich. Doch, obwohl ich etwas anderes erlebte als die Personen im Film, glaube ich, Parallelen zwischen den humanitären Helfern und mir ziehen zu können.
Das Verlangen wegzugehen, die Bereitschaft alles und jeden hinter sich zu lassen, ist mir vertraut. Auch wenn mein Antrieb nicht derselbe war, so haben wir gleichermassen unsere Liebsten zurückgelassen.
Auch ich habe mich Risiken wie Krankheit, Unfall, Entführung, Vergewaltigung oder im schlimmsten Fall dem Tod ausgesetzt. Bei den HelferInnen von MSF siegte das Bedürfnis zu helfen über die Angst, bei mir die Neugier. Ich habe keine vergleichbare Leistung im Ausland erbracht und doch teilen wir die Faszination an unseren Mitmenschen und tragen unvergessliche Begegnungen in unseren Herzen.
Auch ich empfand die Rückkehr als ein sehr spezieller Moment. Es war eine Überraschung für alle. Die Freude über ein Wiedersehen mit meinen Liebsten war gross, und gleichzeitig fühlte ich mich unbehaglich. Es war eine absurde und verwirrende Situation. Zwei Welten, die aufeinandertrafen, und beide mussten sich zuerst neu orientieren. Eigentlich hätte man sich viel zu erzählen gehabt, doch keiner wusste, wo beginnen. Zudem war ich unsicher, ob mich überhaupt jemand wirklich verstehen würde.
Der Schritt wegzugehen, liebe Menschen hinter sich zu lassen, kann durchaus als egoistisch betrachtet werden. Wie Stéphane im Film sagt, verfolgt man bei allem, was man tut, auch persönliche Interessen. Doch genau dieses Ego treibt uns an und gibt uns die Energie für grosse Taten. Im Film wird auf eine sehr berührende Art und Weise gezeigt, dass es den Egoismus braucht, um anderen zu helfen.
«Der Schritt wegzugehen, liebe Menschen hinter sich zu lassen, kann durchaus als egoistisch betrachtet werden.»
Geraldine Maier
Im Gespräch mit Otmar fühlte ich mich ertappt, als er sagte, dass er nicht in Anspruch nimmt, dass man ihn versteht. Trotz seinen lebendigen Erzählungen konnte ich nur vage nachvollziehen, was er alles erlebt hatte. Bemüht, den Überblick über all seine Projekte zu behalten, war es schliesslich eine Aussage, die für mich sein ganzes Engagement unter einen Hut bringen liess. Und zwar meinte er, dass nicht alle Leute sein Engagement als gleich nützlich angesehen hätten. Doch was er gemacht habe, empfinde er als wichtig und unzählige persönliche Erfolgserlebnisse bestätigten ihm dies.
Diese Frage stimmte mich nachdenklich. Otmars Schilderungen seines Familienlebens an einem Ort, an dem sehr einfache Lebensbedingungen herrschten und wo er überall riskierte, mit HIV infiziert zu werden, liessen mich fragen: Handelte er egoistisch? Doch wenn ich ehrlich bin, steckt viel mehr hinter diesem Bild. Wie Otmar sagte, lässt sich ein solch lebenseinschneidender Entscheid nicht in einem Satz erklären. Es ist ein Entscheid, der auf viele vorherige folgte. Die Überlegungen, Gedanken und Gefühle unseres Interviewpartners bleiben ein Geheimnis, doch die Freude und Bewunderung, dass es anderen Menschen aufgrund seiner Hilfe besser geht, die behalten wir in Erinnerung.