
Ungewohnte Freiheit, gepaart mit Selbstverantwortung
Endlich – der letzte Schultag vor den langen Ferien im heissen Sommer 1947 war geschafft. Nun war Schluss mit dem langweiligen Stillsitzen, denn ich durfte die nächsten Wochen zusammen mit einigen Cousinen und Cousins aus unserer grossen Familie bei meiner Grosstante in ihrer Hütte auf dem Randen oberhalb Merishausen verbringen. Wir liebten unsere Tante Klara über alles. Sie war eine aussergewöhnliche Frau, unverheiratet und schon über 60 Jahre alt. Seit ihrer Pensionierung wohnte sie meistens in der Klarahütte, so nannten die Leute im Dorf das Häuschen, das weit ab vom letzten Hof in einer Lichtung lag. In der Hütte gab es weder elektrisches Licht noch fliessendes Wasser. Gekocht wurde mit Holz, das Wasser holten wir bei der Quelle, die ungefähr 500 Meter entfernt in ein Steinbecken sprudelte, und abends wurden die Petrollampen entzündet.
Es waren die schönsten Wochen im Jahr, denn Tante Klara liess uns unsere wilden Spiele spielen, ohne uns dauernd zu ermahnen, und wir genossen diese ungewohnte Freiheit in vollen Zügen. Wir bauten Baumhäuser, bastelten Flitzbogen und leiteten den Bach in ein neues Bett. Natürlich gab es dabei auch kleinere Unfälle. Ein aufgeschlagenes Knie oder ein verstauchter Fuss, das kam immer wieder vor. Der liebevolle Kommentar unserer Tante beim Versorgen einer Verletzung war dann jeweils: «Wer auf einen Baum klettert, muss wissen, dass man auch herunterfallen kann!» Im Klartext meinte sie wohl: «Du musst die Verantwortung für dein Tun tragen!» Fasziniert waren wir von den Versteinerungen, die wir in einem kleinen Steinbruch in der Nähe fanden. Geheimnisvolle Zeugen einer versunkenen Zeit. Ob da wirklich einmal ein Urmeer war? Wenn die Nacht hereinbrach, durften wir aufbleiben, bis man die Milchstrasse sehen konnte. Niemand schickte uns ins Bett. Für Tante Klara war die Nacht ebenso wichtig wie der Tag. Sie erklärte uns die Sternbilder und den Lauf des Mondes. Staunend erfuhren wir vom unendlichen Raum, von den Milliarden Sonnen, von Entfernungen, die jenseits unserer Vorstellungskraft lagen. Bevor wir dann schlafen gingen, sang sie mit ihrer warmen, tiefen Stimme das Lied «Hört ihr Herrn und lasst euch sagen» oder «Der Mond ist aufgegangen».

Einmal in der Woche wurden wir ins Dorf geschickt, um einzukaufen. Jedes von uns trug einen Rucksack und Thomas, der Älteste von uns, hatte das Portemonnaie und den Einkaufszettel in seiner Tasche. Auf dem Rückweg waren unsere Rucksäcke dann gefüllt mit Mehl, Käse, Rüebli, Kartoffeln und Brot. Das Beste an diesen Einkaufstouren war, dass wir auch einen Bienenstich mit nach Haus bringen durften. Den gab es dann am Abend zur Belohnung. Er war süss und weich, gefüllt mit einer herrlichen Crème und mit gerösteten Mandelsplittern bestreut.
Wir durften schlafen, wenn wir müde waren
So viel paradiesische Freiheit wie in diesen Ferienwochen habe ich sonst in meinem ganzen Leben nie mehr erfahren dürfen. Wir durften Fragen stellen und bekamen immer eine Antwort. Wir durften im Schein der Petrollampen lesen, solange wir wollten, ohne dass uns jemand prophezeite, wir würden uns die Augen verderben. Wir durften schlafen, wenn wir müde waren, und nicht, «wenn es Zeit war».
Nach den drei Wochen Ferien bei Grosstante Klara hatten anscheinend nicht nur meine Eltern das Gefühl, wir seien alle nicht mehr ganz «gesellschaftsfähig». Nach einiger Zeit benahm ich mich jedoch wieder so zivilisiert, wie das von mir erwartet wurde. Doch das herrliche Gefühl von Freiheit und Selbstverantwortung begleitet mich bis heute.
Hinweis: Charlotte Häfeli und Melina Hasler haben ihre Texte zu Freiheitsgefühlen im Tandem geschrieben. Melina Haslers Text trägt den Titel : Flügge werden.