
Herbst 1958, ein kleines Mädchen lehnt sich an das grosse Fenster im Wohnzimmer. Es schaut zuerst auf das überladene Bücherregal, dann ganz unsicher auf das Kanapee mit dem rotgelben Rosenbezug.
Vier schwarzgekleidete Menschen sitzen auf dem geblümten Kanapee. Eine lähmende Stille, unsagbare Trauer umhüllt die vier Gestalten.
Die Schwarzgekleideten sind die Eltern und Grosseltern des Mädchens. Sie wirken unnahbar, fremd. Sie weinen leise. Der ältere Bruder des Mädchens hat sich hinter dem gelben Lehnsessel versteckt- das Mädchen sieht nur noch seine blauen Socken.
Ihr dreimonatiges Schwesterchen ist plötzlich gestorben.
«Claudia kommt nie, nie wieder», hat die Grossmutter erklärt.
Das Mädchen dreht sich zum Fenster, schaut hinaus, die gelben Blätter der Birken taumeln im Wind. Es fühlt sich alleine. Das Schluchzen der Mutter ist wieder und wieder hörbar. Das Mädchen hält sich mit den kalten Händen die Ohren zu und schliesst die Augen. Es will nichts mehr hören, nichts mehr sehen.
Nach einer Weile öffnet es die Augen und schaut in die Dämmerung hinaus. Da bewegt sich etwas am Himmel. Es sieht ganz kurz, aber klar, Engelsflügel vorbeiziehen. Das Mädchen weiss, es ist sicher – es ist Claudia, ihr Schwesterchen.

«Ich habe Claudia gesehen», sagt das Mädchen mehrmals, doch niemand hört ihm zu.
Am andern Tag gehen sie hinter dem kleinen, weissen Sarg zum Friedhof. Der Priester segnet den Sarg, besprengt ihn mit geweihtem Wasser und spricht von Engeln. Das Mädchen hat es deutlich gehört. Engel gibt es.
Es steht immer wieder am Fenster, wartet auf die Engelsflügel.
Die Grossmutter nimmt das Mädchen bei der Hand und sagt zu ihm: «Engel sind seltene Erscheinungen».
Aus dem Mädchen wird eine 12 jährige, interessierte Sophia. Im Biologieunterricht lernen die Schüler die Funktion des Gehirns sowie dessen Erkrankungen kennen. Sophia hört das Wort Hirnhautentzündung. Sie erschrickt, zuckt zusammen und erinnert sich wieder an den Tod von Schwesterchen Claudia, vor 8 Jahren.
Von nun an wird Sophia von schrecklichen Albträumen geplagt, sie träumt von dunklen Wesen, die an ihr zerren und ihr die schlimmsten Sachen ins Ohr flüstern, wie: « Dein Schwesterchen Claudia schmort in der Hölle, umgeben von feuerroten Teufeln. Du selbst wirst an einer Hirnhautentzündung erkranken, und dann wirst du sehen…» Was genau geschehen wird, weiss Sophia nicht, oder erinnert sich nicht mehr an das Gesagte. Finster wird es um Sophia.
Sie beschliesst weniger zu schlafen, um den Träumen auszuweichen. Sie bekämpft tagelang die Müdigkeit. Doch im Religionsunterricht wird sie von der Lehrerin auf ihre dunklen Augenringe angesprochen.
Scheu und etwas zaghaft erzählt Sophia der jungen Lehrerin von ihren grauenhaften Träumen. Die Religionslehrerin zeigt sich verständnisvoll und einfühlsam. Sie denkt nach und sagt nach einer Weile:
« Vielleicht hilft dir ein Gebet vor dem zu Bett gehen, Sophia. Ich schreibe dir eine Bibelstelle aus dem Brief an die Gemeinde Ephesus auf und fasse es zu einem kurzen Gebet zusammen».
Gott ist mein Beschützer, er lässt mich stark werden. Durch seine Kraft und sein Licht weicht das Unheimliche und das Böse von mir. Das Finstere und Böse hat kein Anrecht auf mich.
Sophia lächelt etwas verlegen, nimmt das Gebet mit und verlässt den Raum.
Sophia betet und betet – doch die schrecklichen Bilder kommen nachts wieder, teilweise noch wilder noch diabolischer. Sophia gibt nicht auf, sie murmelt die Gebetsverse jeden Abend vor sich hin.
Eines Morgens erwacht Sophia, ruhig, entspannt, erleichtert. Die gruseligen Gestalten haben sich davongeschlichen, als wären sie «verpufft» und als hätten sie Angst.
Eine wohlige Wärme umgibt Sophia, als sähe sie Engelsflügel.
Sophia sieht jedoch keine Engelsflügel, und doch ist sie sich sicher, dass es Engel gibt.
Sie hat gelernt, dass das Finstere, Böse existiert. Solange es Licht gibt, wird es auch Schatten geben. Doch wer im Licht geht, braucht sich vor dem Schatten nicht zu fürchten.