David Leuenberger(21) und Werner Kaiser (82)
Unsere Entscheidungen sind häufig kaum von Bedeutung. So greife ich im Supermarkt beispielsweise nach einem Bananenjoghurt und lehne damit das Blutorangenjoghurt und die Magermilch ab. Und wenn es mal kein Bananenjoghurt hat, so lasse ich es sein und verlasse den Supermarkt wieder. Wir sind meistens mit einer Fülle von Möglichkeiten konfrontiert. Nicht aber im Dilemma. Hier muss die Entscheidung auf eine von lediglich zwei Handlungsmöglichkeiten fallen.
Die moralisch schwierigsten Dilemmata sind jene, bei denen ein Ja ebenso unangenehme Folgen hat wie ein Nein. Wir haben sieben moralische Dilemmata herausgesucht. Wie würdest du jeweils entscheiden? Welche Entscheidungen wären besonders problematisch?
Unangenehme Dilemmata-Experimente
Obwohl eine Entscheidung schwierig ist, sind die von PhilosophInnen konstruierten Dilemmata-Experimente möglichst übersichtlich und einfach. Es gibt schliesslich nur zwei Möglichkeiten. Dilemmata wie die sieben nachfolgenden sind glücklicherweise nur unangenehme Gedankenexperimente, bei welchen man sich am liebsten für einen dritten Weg – einen Ausweg aus der überfordernden Situation – entscheiden würde. Es ist aber zumindest denkbar, dass man auch im Alltag in eine vergleichbar verzwickte Lage geraten kann. Die richtige Entscheidung ist dabei alles andere als offensichtlich.
Ethische Entscheidungen – in jeder Situation das moralisch Richtige tun
Für welche der zwei Möglichkeiten soll man sich entscheiden? Die Ethik versucht, die richtige Entscheidung in schwierigen Situationen zu finden und diese zu begründen. Muss man sich für x oder für y entscheiden? Warum ist die eine Entscheidung richtig und die andere falsch? Das Ziel der Ethik ist es, Handlungen zu begründen und dadurch Regeln und Gesetze zu entwickeln, nach denen wir leben sollten und durch deren Anwendung wir in jeder Lage das moralisch Richtige tun.
In der Zwickmühle – schmerzhafte Entscheide treffen
1. Die Gleisarbeiter (von Philippa Foot)
Ein unkontrollierbares Tram fährt direkt auf fünf GleisarbeiterInnen zu, die dadurch in Lebensgefahr schweben. Nur du kannst noch eine Weiche umstellen, wodurch das Tram ein anderes Gleis befahren würde. Nun ist dort auch ein Gleisarbeiter, der getötet würde. Würdest du die Weiche umstellen oder nicht?
2. Der dicke Mann (von Judith J. Thomson)
Auch hier fährt ein unkontrollierbares Tram auf fünf Gleisarbeiter-Innen zu, die getötet werden. Nur wenn du einen dicken Mann von der Brücke auf die Geleise stösst, bringt dessen Körper das Tram zum Stehen. Der dicke Mann würde dies allerdings nicht überleben. Würdest du den dicken Mann von der Brücke stossen oder nicht?
3. Der Chirurg (von Judith J. Thomson)
Das Leben von fünf PatientInnen hängt von je einem anderen Spendenorgan ab. Ein gesunder Mann kommt in das Spital. Du bist ChirurgIn und bemerkst, dass die Organe dieses Mannes exakt zu den fünf PatientInnen passen. Wirst du ihm die nötigen Organe entnehmen oder nicht?
4. Sophie (von William Styron)
Du bist Sophie, du hast eine Tochter und einen Sohn und befindest dich in einem Konzentrationslager. Der Aufseher zwingt dir die Entscheidung auf, welches Kind du behalten willst. Wenn du keine Wahl triffst, verlierst du beide Kinder. Wie entscheidest du dich?
5. Der Terrorist
Du leitest das Verhör gegen einen Terroristen, der an belebten Orten Bomben mit Zeitzündern gelegt hat, aber bezüglich der Orte, wo sich die Bomben befinden, schweigt. Wirst du den Mann foltern, um zu erfahren, wo die Bomben gelegt sind? Wirst du zu diese Zweck gar die unschuldige Frau des Terroristen foltern?
6. Der Unfallverursacher
Du fährst unaufmerksam Auto, siehst von deinem Handy auf und erblickst einen Fussgänger vor dir. Du überfährst ihn trotz sofortigen Bremsens. Wegen des starken Bremsens verursachst du eine Karambolage. Du erblickst den toten Fussgänger. Da kommt eine aufgewühlte Frau daher, deren Wagen in den Unfall verwickelt ist. Sie glaubt, dass sie die Verursacherin des Unfalls war. Gibst du deine Schuld zu oder lässt du die Frau in ihrem Glauben?
7. Robin Hood
Du ertappst einen Bankräuber auf frischer Tat und stellst ihm nach. Dabei erfährst du, dass dieser das gestohlene Geld einem Kinderheim zukommen lassen will, das wenig finanzielle Mittel zur Verfügung hat. Die Heimleitung könnte den Kindern nun genügend Essen einkaufen. Würdest du den Bankräuber an die Polizei verraten oder nicht?
Und wie haben Sie entschieden?
Nehmen wir beispielsweise das Gleisarbeiter-Dilemma von Philippa Foot: Darf der Weichensteller den Tod eines Gleisarbeiters in Kauf nehmen, um fünf andere Leben zu retten? Für die meisten Menschen ist es moralisch korrekt, eine Weiche umzustellen, wodurch das unkontrollierbare Tram die Spur wechselt und nur einen anstatt fünf Gleisarbeiter überrollt. Aber warum? Weil der Tod von einem Menschen effektiv dem Tod von fünf Menschen vorzuziehen ist?
Wenn wir die Entscheidung auf diese Weise begründen, könnten wir auch das Chirurgen-Dilemma von Judith J. Thomson lösen. Der Chirurg dürfte einen zufälligen Menschen töten und seine Organe fünf verschiedenen Menschen implantieren, die dringendst welche benötigen. Ist dies noch immer zu befürworten? Wenn nicht, muss eine andere Begründung gesucht werden.
Dilemmata, die sich einerseits durch eine vereinfachte Situation, anderseits durch moralische Komplexität auszeichnen, sind in der Ethik geeignet, um Handlungen und auch deren Begründungen zu hinterfragen. Es kann auf diese Weise versucht werden, unsere moralischen Überzeugungen zu ordnen, diese aber ebenso zu hinterfragen.
Diese Wege wählt das Tandem
David (21) und Werner (82) haben in einer Zoom-Sitzung die Gedankenexperimente miteinander durchgeführt. Zuerst einmal staunten wir: In allen sieben Experimenten entschieden wir uns für dieselbe Lösung.
«In allen sieben Experimenten haben wir uns für dieselbe Lösung entschieden.»
David Leuenberger, Werner Kaiser
Wir erlebten wichtige Einsichten. So fanden wir zum Beispiel, es bestehe ein grosser Unterschied, ob die Entscheidung vorher überlegt werden konnte oder ob ein Blitzentscheid nötig war. Der Chirurg konnte vorher überlegen, ob er den gesunden Mann für die fünf andern opfern würde. An der Weiche beim ausser Kontrolle geratenen Tram aber bleiben wenige Sekunden für den Entscheid.
«Wer sich ethische Fragen immer wieder stellt, hat deshalb eine gute Grundlage, wenn einmal ein plötzlicher Entscheid nötig wird.»
David Leuenberger, Werner Kaiser
Mehrmals fanden wir, es wäre doch neben einem Ja oder Nein auch noch eine dritte Lösung möglich. An der Weiche hätte vielleicht auch lautes Rufen genügt. Der Mann im Spital hätte gefragt werden können, ob er bereit wäre, das eine oder andere Organ zu spenden. Statt einer Folter hätte vielleicht auch schon eine Androhung von Folter genügt, um zu den dringend benötigten Informationen zu kommen. So geht es uns ja oft bei Abstimmungen: Wir können nur Ja oder Nein einlegen, würden aber lieber für eine dritte Lösung stimmen.
Immer wieder fanden wir, die Experimente seien abstrakt. In der konkreten Situation würden noch viele Aspekte mitspielen. Ob die Frau im Konzentrationslager eines der Kinder bevorzugen sollte, könnte auch davon beeinflusst werden, wie die Überlebenschancen der beiden Kinder nach den Entbehrungen des Konzentrationslagers wären.
Natürlich ist es nicht das Gleiche, ob einfach gar nicht gehandelt werden könnte, wie in der Tramsituation, oder ob ich aktiv den dicken Mann in den Tod stossen muss. Dabei ist allerdings zu bedenken, dass auch Nichthandeln schuldhaft sein kann. Bei Blitzentscheiden spielen wohl auch Sympathie und Antipathie eine Rolle. War der dicke Mann mir deutlich unsympathisch, hätte ich auf der Brücke vielleicht leichter zugestossen. Oder wenn jemand die Frau, die den Unfall verursacht, besonders sympathisch gefunden hätte, hätte das seinen Entscheid vielleicht auch beeinflusst. Sympathie und Antipathie sind allerdings keine ethischen Kriterien.
Spannend ist die Frage auch bei einer Robin-Hood-Situation: Dürfen wir für einen guten Zweck betrügen? Im Grundsatz können wir sicher nicht dahinterstehen, aber im Einzelfall wäre doch oft der notleidende Mensch wichtiger als die Bilanzsumme einer Bank.
Dilemmata des Alltags
Stehen wir im Alltag auch manchmal im Dilemma? Wann und wo befinden wir uns in solchen Situationen? Unterscheiden sich alltägliche Situationen von den Gedankenexperimenten? Wir versuchten, uns zu erinnern, wann wir selber besonders viel Mühe hatten, uns zu entscheiden.
Die Entscheidung bleibt Werner erspart
«Von Dilemma spreche ich vor allem, wenn beide Lösungen einer Frage sehr unangenehme Folgen haben und ich mich am liebsten gar nicht entscheiden würde.»
Werner Kaiser
So ein Dilemma könnte auf mich zukommen, wenn ich einen schweren Verlauf an Covid-19 hätte. Das war bis zur Impfung gar nicht so unwahrscheinlich, bei meinen 82 Jahren. Soll ich mich im Spital behandeln lassen oder die Krankheit zuhause ausstehen? Ich habe Bilder gesehen, wie die PatientInnen im Spital auf dem Bauch liegen. Und ich habe Geschichten gehört von Patienten, die allein sterben mussten. Auf der anderen Seite: Wenn ich zuhause bleibe und mich von der Spitex ambulant behandeln lasse, verpasse ich vielleicht die Chance, geheilt über die Runden zu kommen. Jetzt bin ich geimpft und die Entscheidung bleibt mir erspart. Aber ich wüsste nicht, welche Wahl ich einem lieben Menschen empfehlen würde.
David sucht einen vorläufigen Ausweg aus dem Dilemma
Tatsächlich sind die meisten Situationen, in denen ich mich schwertat, die Entscheidung zu finden, dem Unfallverursacher-Dilemma ähnlich. Soll ich etwas tun oder lassen? Der eine Weg ist der egoistische, der mir die unmittelbaren Bedürfnisse erfüllt. Allerdings habe ich dabei ein schlechtes Gewissen. Der andere Weg ist wahrscheinlich in vielen Fällen der moralisch richtige, aber auch der langweilige und unbefriedigende.
«Ich glaube, dass man sich rund um Corona besonders häufig in solchen Situationen wiederfindet.»
Daniel Leuenberger
Beispielsweise beschäftigt mich die Frage, ob ich in der jetzigen Pandemiesituation Skifahren gehe oder nicht. Dafür spricht, dass mir das Skifahren und die Schneelandschaft Freude bereiten und ich auf diese Weise mit Freunden etwas unternehmen kann. Es wäre eine sehr willkommene Abwechslung zum momentan eher eintönigen Alltag. Hingegen ist da das Risiko, sich zu infizieren oder sich zu verletzen, wodurch man die überforderten Gesundheitsinstitutionen unnötigerweise beanspruchen würde.
Dilemmata dieser Art sind ziemlich alltäglich. Wie entscheide ich mich jeweils? In einigen Situationen wäge ich ab, entscheide mich auch mal für den weitsichtigen, umweltfreundlichen Weg. Häufig suche ich im Anschluss einen vorläufigen Ausweg aus dem Dilemma: Ich gehe vielleicht nicht Skifahren, dafür mache ich eine Winterwanderung oder gehe schlitteln. Meine Bedürfnisse werden ziemlich gut auf eine andere, umweltverträglichere, das Gewissen beruhigende Weise erfüllt. In vielen solchen Situationen – muss ich allerdings zugeben – ignoriere ich die schädlichen Folgen meines Verhaltens: Man muss ja auch einfach mal leben können.