
Liebe LeserInnen
«Wissenschaftlichen Fortschritt gibt es nicht.» So formuliert es der Physiker Thomas Kuhn. Naja, da fragt man sich schon ein wenig, wie er das genau meint und wie er dazu kommt, gerade als Physiker solch eine Behauptung aufzustellen. Dieser Spinner! Wo wir doch heute so viele Möglichkeiten zur Kommunikation und Informationsbeschaffung haben. Und dann erst die Medizin: Was heute chirurgisch alles zusammengeflickt werden kann, was es für Medikamente, Impfungen, Untersuchungsverfahren gibt…
Der Fortschritt erleichtert den Alltag und ermöglicht Blinddarmoperationen, Antibiotika gegen Lungenentzündung und Bypass-Operationen. Ich finde es praktisch, mich überall im Internet schnell informieren zu können, meine Kontaktlinsen günstig per Computer zu bestellen, ab und zu eine tropische Frucht zu essen und reisen zu können. Doch wenn ich mir diese Frühlingsausgabe anschaue, muss ich sagen: Fortschritt hat auch viele negative Seiten. Da sind die Ressourcen der Erde, die bald nicht mehr ausreichen. Die Atmosphäre und Umwelt, die der Mensch selbst allmählich menschenfeindlich werden lässt, indem er Flora und Fauna ausrottet und die Luft verpestet. Die unglaubliche Überwachung durch Google und andere Internetdiktatoren. Der technische Fortschrittswahn, der den menschlichen Fortschritt, das echte, wahre Gefühl, verkümmern lässt. Zudem: Noch müssen wir alle irgendwann sterben. Da hilft auch die Spitzenmedizin nicht weiter.
Der Mensch versucht unentwegt, das Leben zu kontrollieren, er will jede Variable des Alltags manipulieren können, um das gewünschte Resultat zu erhalten. Und wenn das Resultat nicht optimal ist, dann muss verbessert werden. Aber der Mensch stösst an seine Grenzen. Ist Fortschritt vielleicht manchmal auch ein Fort-Schritt? Gibt es Fortschritt überhaupt?
Vielleicht ist es an der Zeit, Funkkontakt aufzunehmen: «Erde an Fortschritt, Erde an Fortschritt: Halten wir noch Vorwärtskurs? Ist nicht der Rückwärtsgang drin? Oder drehen wir uns im Kreis?» Es ist also gar nicht so dumm, sich auf Kuhns Gedanken einzulassen, dass es möglicherweise gar keinen Fortschritt gibt. Einfach mal Distanz nehmen und das Ganze von weitem betrachten.
Empathie steht am Anfang
Liebe LeserInnen
«Fortschritt» – da kommen einem sofort Gedanken über die immensen technischen Errungenschaften und die wissenschaftlichen Erkenntnisse der letzten Jahre. Die Informationstechnologie hat riesige Umwälzungen in der Arbeitswelt und im Alltag bewirkt. Künstliche Intelligenz ist der nächste absehbare Schritt. Die Gentechnik birgt ungeahnte Möglichkeiten. Welche Auswirkungen haben diese Errungenschaften? Handelt es sich wirklich nur um Fortschritt?
Ich denke: nein. Auch der Physiker Stephen Hawking glaubt, die Entwicklungen in Wissenschaft und Technik gehörten zu den existentiellen Gefahren für die Menschheit. Die Armut hat sich verringert, doch Hunger, Krieg und Gewalt sind verbreitet. Die Umweltzerstörung nimmt bedrohliche Ausmasse an und die Klimaerwärmung ist Realität. Es werden immer mehr Nahrungsmittel produziert, doch deren Gehalt an Vitaminen und Spurenelementen nimmt ab. Die Folgen der Gentechnologie sind unabsehbar. Die Zentralisierung der Finanzmächte schafft eine Zweiklassengesellschafft, wo Macht und Geld die Justiz ablösen. Ich bleibe aber Optimistin und sehe die Möglichkeiten einer positiven Wende. Immer wieder begegne ich jungen Menschen mit Idealen, Enthusiasmus und Willenskraft, dnen ich eine menschlich-philosophische Entwicklung zutraue: hin zu einer verantwortungsvollen Gesellschaft, wo ethische Werte, Menschlichkeit und Nächstenliebe eine grössere Rolle spielen als Macht und Geld.
Wahrer Fortschritt beginnt für mich mit Empathie – neue Errungenschaften dürfen diesen Fokus nicht verlieren. Der Zugang zur Schulbildung auch für Mädchen hat in einigen Ländern zugenommen. Dadurch hat sich die Stellung der Frauen dort verbessert. Ist dies vielleicht ein Fortschritt im menschlichen Bereich?
Fortschrittsmöglichkeiten sehe ich in erster Linie im persönlichen Werdegang. Als Mensch zu wachsen bedeutet für mich leben. Eine bewusste Entwicklung hin zu mehr Mitgefühl, Einfühlungsvermögen und Nächstenliebe ist die Herausforderung. Dabei offen zu sein für neue Denkmuster, um die Grenzen des eigenen Verstehens zu durchbrechen, zu mehr Verständnis für Andersdenkende: Das ist vielleicht sogar unsere Lebensaufgabe.
Schwerpunkt «FortSchritt»
Alles spricht von Fortschritt, von Entwicklung, von Modernisierung. UND fragt mit dem Schwerpunkt im Frühling 2016: Was ist wirklicher Fortschritt?