«Man kann mitunter scheusslich einsam sein.»
Erich Kästner
Einsam zu sein, zählt zu den grossen Anforderungen vieler Menschen. Sie haben den Partner, die Partnerin verloren und stehen allein im Leben. Sie werden ausgegrenzt und fühlen sich verlassen. Sie wohnen allein in einer Mansarde und sehen kaum einen Menschen. Sie leben im Altersheim, doch auch in Gesellschaft kann die Einsamkeit gegenwärtig sein. Auch mitten in der Menge können wir uns einsam fühlen. Mangel an menschlicher Wärme bringt grosses Leid.
Doch Einsamkeit kann auch ganz anders aussehen. Ein einsamer Spaziergang im Wald, umgeben von Ruhe ausstrahlenden Bäumen. Stilles Sitzen in einer Kapelle, ohne viel zu denken, einfach da sein. Die kraftvolle Stille der Berge, abseits aller Motorengeräusche. Allein im Zimmer nach dem Tumult des Alltags. Diese Art Einsamkeit ist nicht Not, sondern Glück.
Wenden wir uns der schönen Seite der Einsamkeit zu. Werner hatte selber schon in einem Kloster gelebt und war immer schon ein Freund der Einsamkeit. Fiona hat sich kürzlich in einem «Haus der Stille und Einkehr» dem Einsamsein ausgesetzt. Ohne die Not der unglücklich Einsamen missachten zu wollen, berichten wie beide vom Glück einer gewollten Einsamkeit.

Ich musste mich daran gewöhnen, dass es überall so still war
Werner: Fiona, du hast ein Wochenende in einem «Haus der Stille und Einkehr» verbracht. War das neu für dich und wie war dein erster Eindruck?
Fiona: Das Haus befindet sich in Wildberg, im Zürcher Oberland. Ich wurde herzlich in Empfang genommen und merkte sofort, Stille ist in diesem Haus überall präsent. Es wird gedämpft gesprochen, Türen werden möglichst geräuschlos benützt. Nachdem mir alles gezeigt worden war und ich allein in meinem Zimmer sass, wusste ich zuerst nicht so recht, was ich jetzt tun soll. Ich musste mich daran gewöhnen, dass es überall so still war. Für mich war diese Erfahrung neu.
Du kommst also in ein Haus, in dem du noch nie warst, tauchst ein in eine Welt, die du nicht kennst. Ist dir der Einstieg schwer gefallen?
Da ich gerne allein bin, habe ich mir vorab keine grossen Gedanken über meinen Aufenthalt gemacht. Tatsächlich war das Alleinsein eines meiner kleinsten «Probleme». Es war eher die totale Stille im Haus, womit ich mich anfreunden musste. Diese war für mich ungewohnt. Wenn ich im Haus umherlief, hallte jeder meiner Schritte wider. Sehr oft ermahnte ich mich daher, noch ruhiger zu sein als sonst. Das bewegte mich zu ausgefallenen Turnübungen: Ich versuchte, gedämpft zu gehen. Während einem meiner Versuche, als ich gerade eine Variation aus Wippen und Knie-gebeugt-Halten entwickelte, bemerkte ich zum Glück, wie doof das aussah.
Das «Haus der Stille und Einkehr» wird von einer religiösen Gruppe geleitet. Musstest du da mit ihnen beten?
Drei Mal am Tag ruft der Gong zum Gotteslob in der Kapelle. Dort findet ein kleiner Gottesdienst statt, es wird gemeinsam gesungen und gebetet. Jedem Gast ist es aber überlassen, ob er teilnehmen möchte. Aus Interesse liess ich mich darauf ein, auch wenn dieser Tagesablauf für mich sehr fremd war.
Und sonst – bist du den ganzen Tag schweigend dagesessen und herumspaziert?
Am Anfang wusste ich nicht so recht, was ich jetzt tun sollte. Also sass ich zuerst ziemlich lange in meinem Lesesessel vor dem Fenster und beobachtete, wie die Tannenwipfel hin und her schwangen. Doch ich stellte fest, dass so Gefahr besteht, einzuschlafen. Also verschob ich mich nach draussen in den Hinterhof. Auch dort sass ich einfach im Schutz der Bäume und versuchte, meine Gedanken etwas leiser werden zu lassen und einfach zu sein. Ich freute mich jeweils sehr, wenn der Gong erklang oder es Zeit zum Essen war, denn das bedeutete, dass ich die Anderen zu Gesicht bekommen werde. Es war sehr ungewohnt für mich, in dem grossen Haus meist niemanden anzutreffen.

«Also sass ich zuerst ziemlich lange in meinem Lesesessel vor dem Fenster und beobachtete, wie die Tannenwipfel hin und her schwangen.»
Fiona Schenk
Ihr habt miteinander gegessen. Habt ihr auch da geschwiegen?
Das Abend- und das Mittagessen haben wir gemeinsam eingenommen. Hier darf gesprochen werden und man lernt sich gegenseitig kennen. Das Frühstück ist allerdings in Stille gehalten.
Wenn du zurückschaust – konntest du aus deinem Aufenthalt etwas lernen?
Ich konnte von diesem Aufenthalt, während dem ich, hart ausgedrückt, von der Aussenwelt «abgeschottet» war, einige Erkenntnisse mitnehmen. Ich habe bemerkt, dass wir die Dinge intensiver wahrnehmen, wenn keine ständige Ablenkung durch das Smartphone oder die Medien vorhanden ist. Zeit mit sich selbst zu verbringen, finde ich etwas Wichtiges, um herauszufinden, was ich wirklich will, was mir Freude macht.

Jetzt bist du schon ein paar Tage zurück in deinem normalen Leben. Hat der Aufenthalt Auswirkungen auf deinen Alltag?
In meinem Alltag versuche ich zwischendurch kurz innezuhalten und tief durchzuatmen, bevor ich meiner Tätigkeit weiter nachgehe. Spätestens nach Feierabend setze ich mich hin, gehe nach Möglichkeit nach draussen und nehme mir einen Moment Zeit nur für mich.
Monoton für lärmgewohnte Ohren. Ergreifend für den, der Stille sucht.
Fiona: Nun haben wir von mir gesprochen. Mich würden deine Erfahrungen interessieren, Werner. Wie bist du überhaupt dazu gekommen, dich über eine längere Zeit im Jahr bewusst zurückzuziehen?
Werner: Seit ich zwanzig bin, verbringe ich fast jedes Jahr ein paar Tage, meist eine ganze Woche, im Kloster Hauterive im Kanton Freiburg. Im Priesterseminar war das üblich. Da ich den Aufenthalt immer als glückliche und hilfreiche Zeit erlebte, behielt ich die Gewohnheit bis heute bei.
Da du also seit Jahren das gleiche Kloster besuchst, frage ich mich natürlich, was für dich dieser Ort bedeutet?
Die Atmosphäre des Ortes ist schwer zu beschreiben. Das Kloster liegt in einer Flussschleife der Saane. Die Landschaft strahlt Ruhe und Sammlung aus. Die Klosterkirche ist 1000 Jahre alt, nüchtern, ohne Verzierungen, kühl, eindrücklich still. Die Mönche singen ihr Ritual, das sich seit 1000 Jahren kaum geändert hat. Der Gesang ist gregorianisch, so wie man vor 1000 Jahren in den Klöstern sang. Monoton für lärmgewohnte Ohren. Ergreifend für den, der Stille sucht.

«Monoton für lärmgewohnte Ohren. Ergreifend für den, der Stille sucht.»
Werner Kaiser
Wie kann ich mir deinen Tagesablauf vorstellen?
Um halb sechs am Morgen ruft die Glocke zum Morgenlob. Das ist früh für mich, aber das Ritual macht mich wach und bereit für den kommenden Tag. Dann trete ich hinaus, atme tief die kühle Luft ein, strecke mich, bewege mich und gehe dann in den Speisesaal zum Frühstück. Dann bin ich allein in meinem kleinen Zimmer, lese oder schreibe Tagebuch. Nachmittags verlasse ich das Gebäude, wandere dem Bach entlang, durchquere den Wald. Stille umfängt mich. Ich setze mich ans Ufer des Baches. Ich sitze lange, ohne Absicht, ohne Ziel. Der Bach rauscht vorbei, lässt Bilder und Gedanken in mir fliessen. Sie kommen zur Ruhe, finden ihren Platz im Ganzen.
So ist dein Aufenthalt im Kloster immer eine glückliche Zeit?
Aufs Ganze gesehen, bedeutet diese lange Zeit des Schweigens für mich so etwas wie Glück. Natürlich ist nicht alles ungestört. Ich nehme mich ja ins Kloster mit, mit meiner ganzen Fragwürdigkeit und Unsicherheit. Ja, diese werden mir noch deutlicher gegenwärtig als sonst. Doch in der Stille wird mir das Belastende des Lebens überschaubar.

Im «Haus der Stille und Einkehr» redeten wir während dem Mittag- und Abendessen miteinander. Ist das im Kloster Hauterive auch so?
Bei den Mahlzeiten wird über Lautsprecher eine Lesung aus dem Speisesaal der Mönche übertragen. Alle schweigen, und doch verbreitet sich unter uns eine wohltuende Herzlichkeit.
Wie fühlst du dich, wenn du nach deiner Zeit in dieser völlig anderen Welt wieder zurück nach Hause kommst?
Wenn diese Tage zu Ende sind und ich den Bus besteige, spüre ich eine Distanz zu allem Geschehen in dieser geschäftigen Welt. Eine Distanz, die mir Freiheit gibt. Ich sehe meine Welt in einem grösseren Zusammenhang, begegne ihr mit neu gefundener Ruhe und Zuversicht.
Wie nimmst du die Stille mit in den Alltag?
Nicht nur im Kloster, auch im Alltag suche ich oft die Stille. Zusammen mit meiner Frau meditiere ich am Morgen. Wir unterbrechen den Lauf des Tages durch eine stille Minute am Mittag. Den Abschluss des Tages bildet ein kleines Tee-Ritual. Das alles hindert mich nicht, mich intensiv ins Leben zu geben, Kontakte zu pflegen, am Computer zu sitzen, mich gelegentlich in den Strudel einer Party zu wagen. Ich spüre den Impuls, auch in der Betriebsamkeit das Leben von innen her anzugehen.
