
Wann warst du zuletzt nackt in der Öffentlichkeit? Als Kind im Freibad oder in der Sauna? Oder vielleicht noch gar nie? Auf dem «Naturistengelände Thielle – die neue Zeit» am Neuenburgersee ist Nacktheit ganz selbstverständlich. Die BesucherInnen des einzigartigen Campingplatzes, alles Mitglieder des Vereins Organisation von Naturisten in der Schweiz (ONS), baden nackt, sonnen sich nackt und treiben nackt Sport. Kurz: Sie leben nackt.
Gesund und befreiend
Auch wenn der Naturismus viele weitere Aspekte beinhaltet, ist es vor allem die praktizierte Nacktheit an Orten wie Thielle, die am auffälligsten ist – und auch für viele Menschen von zentraler Bedeutung ist. Doch warum? Für viele Menschen wäre es ein absoluter Albtraum, in der Öffentlichkeit nackt zu sein. «Kleider machen Leute», heisst es in der Broschüre zum Naturistengelände Thielle – wenn die Kleider verschwinden, verschwinden auch viele Unterschiede zwischen den Menschen. «Es ist einfach unglaublich befreiend, diese Hüllen abzulegen», sagt Martin Beck. «Außerdem fördert das gemeinsame Nacktsein auch eine gesunde Einstellung zum eigenen Körper. Es tut uns gut, verschiedene Körper zu sehen, auch solche, die vielleicht nicht dem gängigen Schönheitsideal entsprechen.» Gerade junge Menschen vergleichen ihren eigenen Körper oft mit perfekt aussehenden Körpern, die sie im Internet sehen. «Solche Körper gibt es auch in Thielle, aber es gibt ebenso Körper, die anders aussehen – und kein Körper wird als unschön angesehen.»
Ein Nachhause kommen
Martin Beck besuchte Thielle, das es seit 1936 gibt, zum ersten Mal mit seinen Eltern. Irgendwann waren sich Mutter und Vater aber nicht mehr einig, ob der naturistische Lebensstil noch angebracht ist – evangelikales Gedankengut beeinflusste den Konflikt –, was dazu führte, dass die Familie das Gelände nicht mehr besuchte. Später, Martin Beck war bereits verheiratet und hatte Kinder, zog es ihn erneut nach Thielle. Für ihn war es wie ein «nachhause kommen», erklärt er. Seine enge Beziehung zu Thielle und der dort gelebten Lebensphilosophie zeigt sich auch darin, dass er sich als Präsident der Organisation von Naturisten in der Schweiz engagiert (siehe Kasten).

«Das gemeinsame Nacktsein fördert eine gesunde Einstellung zum eigenen Körper. Es tut uns gut, verschiedene Körper zu sehen, auch solche, die vielleicht nicht dem gängigen Schönheitsideal entsprechen.»
Martin Beck
Die Erfindung der Scham
Die Ankündigung, dass wir ein Gespräch mit Martin Beck führen würden, warf immer wieder dieselbe Frage auf: «Kommt er dann nackt an das Gespräch?» Natürlich war Martin Beck komplett angezogen. Die Frage zeigt: Naturismus und der Nudismus, der dazugehört, ist vielen Menschen unangenehm und wird oft missverstanden. Das, obschon das Nacktleben nichts Neues ist. Bereits im alten Hellas (heutiges Griechenland) wurde eine Form von Nacktkultur gelebt, und auch im alten Rom wurden Sport und Gymnastik in nacktem Zustand getrieben. «Es sind meist kulturelle oder religiöse Gründe», vermutet Martin Beck, «die andere Menschen dazu verleiten, die Lebensweise von NaturistInnen – insbesondere das gelebte Nacktsein – zu verurteilen».
Für viele Menschen ist Nacktheit mit Scham verbunden – es kommt nicht von ungefähr, dass im deutschen Sprachgebrauch der Ausdruck «Scham» unter anderem auch für die Gegend der Geschlechtsteile des Menschen benutzt wird. Spannend in diesem Zusammenhang ist, wie im GEOkompakt, einem Wissensmagazin von GEO, zu lesen ist, dass unter allen Tieren nur der Mensch Scham empfindet. Während Affen zum Beispiel stolz ihre Genitalien präsentieren und Fortpflanzung zu einer öffentlichen Aufführung machen, gibt es selbst bei nackt lebenden Völkern strenge Verhaltensregeln. Sie verbieten zum Beispiel den Männern die Genitalien der Frauen zu betrachten oder schreiben vor, dass Männer und Frauen, die nicht verheiratet sind, nur Rücken an Rücken miteinander sprechen. Gibt es also eine Ur-Scham beim Menschen, die uns daran hindert, uns mit nackten Körpern in der Öffentlichkeit ganz wohl zu fühlen? Da nur wenig darüber geforscht wird, kann diese Frage heute noch nicht beantwortet werden.
Nicht nur nackt
Naturismus beschäftigt sich mit der Natur. Mit der Natur des Menschen, die umgebende Natur, die Wechselbeziehung zwischen den beiden und mit den Naturgesetzen. Seine Ursprünge hat der Naturismus im 19. Jahrhundert. Während der zunehmenden Industrialisierung gab es Bestrebungen nach einer sogenannten «Lebensreform», also einer Umstellung bei der Ernährung, bei den Wohnformen, bei der Gesundheitspflege und bei der Erziehung. Diese Gegenbewegung zur Industrialisierung war unter anderem geprägt durch die vermeintlich von Jean-Jacques Rousseau ausgerufene Aufforderung «Zurück zur Natur!».
Auch die Freiwirtschaftslehre von Silvio Gesell prägte den Naturismus. Mit einer Einführung von Schwundgeld, das mit der Zeit an Wert verliert, wollte Silvio Gesell das Geldsystem reformieren, um eine gerechtere und stabilere Wirtschaft zu schaffen. Silvio Gesell befürwortete auch die Vergesellschaftung des Bodens, um eine gerechtere Verteilung der natürlichen Ressourcen zu erreichen. Die Theorien von Silvio Gesell wurden zwar nicht umfassend umgesetzt, beeinflussten aber unterschiedliche Wirtschaftstheorien und soziale Bewegungen – wie eben die Naturistenbewegung.
«Mein Vater wurde aufgrund dieser Prägung Anhänger der Naturistenbewegung. Heute ist dieser Aspekt des Naturismus aber mehrheitlich verloren gegangen», erzählt Martin Beck. «Die meisten BesucherInnen von Thielle wissen nichts mehr über die Freiwirtschaft.»

Diese Prägungen, die Verbundenheit mit und die Einstellung zur Natur sind auch das, was die Naturistenbewegung von der Nudistenbewegung unterscheidet. «Das Nacktleben ist ein Aspekt unserer Lebensart, aber bei weitem nicht der Einzige», sagt Martin Beck. «Wir verzichten in Thielle auf Fleisch, leben alkohol- und rauchfrei und mit wenig Technik. Wir versuchen gesund – für uns und die Natur – und möglichst einfach zu leben.»
Martin Becks Partnerin war zwar nicht gleich beeindruckt von der Nacktkultur wie der Naturalist selbst, fand aber Gefallen am vielfältigen kulturellen Angebot, das auf dem Campingplatz stattfindet. Dazu erklärt Martin Beck und lacht: «Ich gehe wegen dem Nacktsein, sie geht trotz des Nacktseins.» Auch seine Kinder, heute längst erwachsen, besuchen Thielle regelmässig und haben dort enge Freundschaften geschlossen.
«Wir verzichten in Thielle auf Fleisch, leben alkohol- und rauchfrei und mit wenig Technik. Wir versuchen gesund – für uns und die Natur – und möglichst einfach zu leben.»
Martin Beck
Die Angst vor «Grüseln»
Die Erwähnung von Kindern veranlasste uns, das Thema Pädophilie anzusprechen. Martin Beck scheint es gewohnt zu sein, darüber zu sprechen. Er bringt es selbst zur Sprache und gibt unaufgefordert Auskunft. «Kinder dürfen nicht ohne die Erlaubnis ihrer Eltern in fremde Wohnwagen eingeladen werden», betont er. «Auffälliges Verhalten gegenüber Kindern wird sofort gemeldet und angesprochen. Zudem gibt es ein Care-Team, das ständig anwesend ist.» Martin Beck versichert: «Es passiert sehr selten etwas, und auch nicht öfter als an Orten, an denen keine Nacktkultur gelebt wird. Dennoch sind die ThiellerInnen konstant vorbereitet, falls doch etwas passieren sollte.»
«Ich fühle mich als nackte Frau hier wohler als in mancher öffentlichen Badi im Bikini.»
Ulla, im Magazin von ONS
Es sind nicht nur Kinder, die durch «Grüsel», natürlich ein verharmlosender Ausdruck, gefährdet sind. In Diskussionen rund um das Bedecken des weiblichen Oberkörpers werfen manche Männer ein, dass Frauen gerne «oben ohne» rumlaufen dürfen. Oft folgt dieser Aussage ein dummes Grinsen, das die eigentlichen Absichten dahinter offenbart. In diesem Zusammenhang weckt ein Zitat in der Broschüre zum Naturistengelände Thielle besonders unser Interesse. Ulla sagt: «Ich fühle mich als nackte Frau hier wohler als in mancher öffentlicher Badi im Bikini.» Ob es keine Übergriffe und Fälle von Belästigungen von Frauen gibt, fragen wir Martin Beck. Denn viele Frauen würden wohl nicht oben ohne baden, selbst wenn es erlaubt wäre – eben aus Angst vor Belästigung.

«Frauen (oder Männer) anmachen ist ein «No Go» in Thielle und wird mit Ausschluss sanktioniert», erklärt Martin Beck. Selten gäbe es Menschen, die über den See auf das ansonsten mit einer Mauer abgeschottene Gelände eindringen, um zu «gaffen». Diese würden aber meist schnell identifiziert und hinausbegleitet.
«Grundsätzlich sind wir in Thielle eher prüde», erzählt Martin Beck mit einem Schmunzeln und ergänzt: «Was in den Wohnwagen passiert, geht natürlich niemanden etwas an, aber in der Öffentlichkeit sind sexuelle Handlungen – dazu gehören auch Anmachsprüche – stark verpönt. Wir umarmen uns nicht einmal.»