
UND hat Xenia Dürig und Linda Wachtarczyk am 11. Dezember im Berner Generationenhaus zum Gespräch getroffen. Die beiden jungen Frauen von der Gruppe Open Borders Caravan Bern erzählen von ihrem Engagement für Menschen auf der Flucht. Sie wollen sich die Tragödie nicht einfach vor dem Fernseher mitansehen. Sie wollen etwas tun. Auch wenn es nur ein Tropfen auf den heissen Stein ist.
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Zum Beispiel Rigonce:
Europas Drama und zwei junge Helferinnen
So viele Menschen wie nie seit dem 2. Weltkrieg sind auf der Flucht. Xenia Dürig und Linda Wachtarczyk erzählen von ihren beklemmenden Erlebnissen als Freiwillige an der slowenisch-kroatischen Grenze.
Rigonce, Slowenien, 24. 10. 2015, 19:00 Uhr
Wir kommen auf einem Feld an, auf dem sich Tausende von Flüchtlingen befinden. Heute ist der erste Tag, an dem freiwillige Helfer mitanpacken dürfen, obwohl schon seit einigen Tagen der Grenzübergang in Rigonce an der slowenisch-kroatischen Grenze für Flüchtlingsströme offen ist. Wir sind voller Tatendrang, wir wollen helfen, wo wir können.
Es ist eine neblige und feuchte Nacht. Um viele kleine Feuer drängen sich die Menschen. Schon von weitem hört man Rufe und Kindergeschrei.
Noch sind wir zurückhaltend, da wir nicht wissen, was zu tun ist, doch das ändert sich schnell.
Es fehlt an allem.
Momentan herrscht ein Bürgerkrieg in Syrien, der viele Menschen dazu zwingt, ihr Haus zu verlassen und zu flüchten. Wenn sie in Rigonce ankommen, haben sie bereits einen sehr langen und gefährlichen Weg hinter sich. Die meisten sind erschöpft und frustriert. Viele rufen, dass sie frieren oder Hunger hätten. Die Stimmung ist angespannt und gereizt. Es ist eng, kalt und nass. Da sich die slowenischen Behörden weigern, den Flüchtlingen Holz zur Verfügung zu stellen, sammeln sie PVC-Plastik und andere Dinge, die sie verbrennen können. Giftige Gase und Dämpfe machen sich auf dem offenen Feld breit, auf dem 1500 Menschen mit einem Absperrband eingesperrt und von stark bewaffneten Polizisten umgeben sind.
Ich war zuerst ohne Atemschutz unterwegs und musste von dem giftigen Rauch heftig husten, zum Glück hat ein Kollege mir ein Halstuch gegeben.
Wegen der gefährlichen Dämpfe müssen viele zum Sanitätszelt, um sich behandeln zu lassen. Damit die Menschen nicht immer mehr Feuer machen, um sich zu wärmen, verteilen wir so viele warme Kleider und Decken wie möglich.
Leider bessert sich die Situation auch mit den gespendeten Kleidern nicht. Es hat von allem zu wenig. Viele Erwachsene laufen ohne Schuhe oder nur in Sandalen herum, viel zu leichtbekleidet für eine kalte Oktobernacht, in welcher die Temperatur auf 4 Grad fällt. Die Menschen hier sind in Not und verzweifelt.

Nicht nur bei der Kleiderabgabe gibt es Chaos, auch allgemein herrscht ein Notstand, denn es gibt zu wenige Helfer. Die Lage ist hektisch und unübersichtlich.
Als wir kurz vor Ladenschluss bemerken, dass es im Camp viel zu wenig Wasser hat, rasen wir mit Autos in den nächsten Laden. Dort nehmen wir einen Hubwagen, um palettenweise mehr als tausend Liter Wasser ins Auto zu befördern, und fahren dann ins Camp zurück.
Vor lauter Stress und Hektik verlieren wir Hemmungen, so tun wir einfach alles, was uns möglich ist – wir funktionieren wie Maschinen.

Der Bedarf an medizinischer Versorgung ist ebenfalls enorm, deshalb kann man sich nur auf wirklich dringende Fälle konzentrieren. Hochschwangere Frauen sowie kleine, kranke Kinder, alte Menschen und stark Verletzte werden untersucht, doch von ihnen gibt es so viele, dass die Kapazitäten schnell ausgeschöpft sind und auch hier schlicht zu wenig Helfer da sind, um alle zu unterstützen.

Durch all diese Erfahrungen merken wir, dass ein sicheres Leben im Krisengebiet – zum Beispiel in Syrien – unmöglich ist. Denn es entscheiden sich sogar die Schwächsten für den gefährlichen Weg nach Europa in der Hoffnung auf eine menschenwürdige Zukunft.
Die Hilfe von Menschen wie uns ist wichtig, aber leider nur ein Tropfen auf den heissen Stein. Dennoch ist das immer noch besser als zuhause vor dem Fernseher zu sitzen und untätig die Welt zu verteufeln.
Sprachbarrieren
Obwohl Xenia weder eine medizinische noch eine pflegerische Ausbildung hat, kümmert sie sich um ein fünf Monate altes Baby, welches unter Atemnot leidet. Die Kommunikation mit den Eltern ist schwierig, denn sie sprechen nur syrisch. Zum Glück spricht ihr 12-Jähriger Sohn etwas Englisch, deswegen begleitet er sein Geschwisterchen mit Xenia zum Sanitätszelt. Nachdem sie das Kind der Obhut eines Arztes übergeben hat, wird ihr selbst ein Patient zugewiesen. Verwirrt erklärt sie, dass sie nicht zum Sanitätsteam gehört. Auch in anderen Situationen bemerken wir, dass die Kommunikation zwischen den verschiedenen Teams viele Probleme bereitet. Vor allem auch jene zwischen der Polizei und den helfenden Organisationen erweist sich als sehr schwierig.

Das Rote Kreuz will von der Polizei ein geistig behindertes Mädchen zusammen mit ihrem Vater ins nächste Camp transportieren lassen. Die Polizisten geben ihr Einverständnis, halten das Versprechen aber dann doch nicht. Nach wiederholtem Nachfragen und der immer gleichen Antwort muss schliesslich ein freiwilliger Helfer den verzweifelten Vater mit der behinderten Tochter fahren. Der Helfer wird nach knapp einem Kilometer von denselben Polizisten angehalten. Diese zerren Vater und Tochter wieder aus dem Auto.
Die Sprachbarriere macht diese Situation nicht einfacher, weder mit den Flüchtlingen, noch mit der Polizei oder anderen HelferInnen. Englisch als Universalsprache ist unabdingbar, doch selbst mit dieser kommt man manchmal nicht weiter.
Was passiert mit den Armen?
Ein 10-jähriger Junge macht sich in die Hose, denn er ist von der Kälte geschwächt und hat seit Tagen nichts Richtiges gegessen. Linda wird von Polizisten herbeigerufen. Sie versucht dem Jungen so schnell wie möglich frische Kleider zu geben. Seine Mutter, welche sichtlich verzweifelt ist, schreit die Helferin an, warum man ihnen nicht schon vorher geholfen hat. «I was a doctor, I was a doctor!», ruft die Frau.
Linda gelingt es, die Frau nach einiger Zeit zu beruhigen, denn der Junge wird rasch umsorgt. «Es hat mir aber schon ein bisschen zu denken gegeben, dass so viele gebildete und wohlhabende Menschen diesen Weg nach Europa einschlagen. Wo bleibt der Mittelstand und was passiert mit den Armen?» Der Gedanke daran, was mit den ärmeren Leuten passiert, die in den Krisengebieten zurückbleiben und sich eine Flucht gar nicht leisten können, beschäftigt Linda bis heute.
Rigonce, Slowenien – 25. 10. 2015, 6:00 Uhr
«Nach einer sehr langen und anstrengenden Nacht sind wir bereit, nach Hause aufzubrechen. Die Bilder der Zustände, die wir gesehen haben, wirken wie ein Katastrophenfilm und werden uns noch lange verfolgen. Trotz Übermüdung und Erschöpfung ist es schwierig einzuschlafen, ohne Alpträume zu haben», meint Linda. «Ich hatte während der Rückfahrt nur kleine Sekundenschlaf-Sequenzen, obwohl ich physisch wie auch psychisch am Ende war.»

Es war ein sehr bedrückendes und erfahrungsreiches Erlebnis. Obwohl wir wussten, dass wir nach diesem Wochenende wieder in unser sicheres Zuhause zurückkehren konnten, war die Situation in Slowenien auch für uns manchmal sehr erdrückend, überfordernd und von Verzweiflung begleitet. Doch genau solch eine erlösende Aussicht fehlt den Menschen auf der Flucht. Ihre Tage sind stets begleitet von Angst und Verzweiflung. Und da ist jeder Tropfen auf den heissen Stein etwas wert!
Mehr in der Winterausgabe von UND
Linda Wachtarczyk und Xenia Dürig berichten auch in der Winterausgabe von UND über ihre Erlebnisse. Die Ausgabe können Sie hier bestellen…