Das harte Los des Jüngsten
DU wuchs sechs Jahre in einer armen Bauernfamilie auf, die in der Nähe des «Tonle Sap», dem grossen See in Kambodscha wohnte. Er war das jüngste von sechs Kindern und oft frustriert, dass seine Geschwister stärker waren und mehr wussten als er. Nur in einer Disziplin war er allen überlegen: Er hatte eine lebendige Phantasie und konnte stundenlang selbst erfundene Geschichten erzählen.
Wies das bereits darauf hin, dass er ein dramatisches Leben haben würde?
Politisch war Kambodscha in grosser Unruhe. Rebellen, die «Roten Khmer», versuchten das Land Kambodscha unter ihre Kontrolle zu bringen. So musste sein Vater die Familie verlassen und ins Militär einrücken. Für DU war das sehr hart, denn der Vater hatte Freude an dem aufgeweckten Bürschchen und hörte gerne seine Geschichten. Für die Mutter war es noch viel härter, denn so musste sie jetzt alleine sich und die Kinder durchbringen und oft noch Rebellen beherbergen, die sie nicht selten vergewaltigten. Als die Mutter einem Bettelmönch den letzten Bissen Reis gab, den sie noch hatte, bat sie ihn, den abgemagerten DU ins Kloster mitzunehmen. Der Mönch versprach ihr, den Klosterleiter zu fragen. Als am nächsten Tag ein Guru (Lehrer) des Klosters kam und mit DU sprach, war der Kleine ganz verängstigt. Was wollte dieser kahle Mann in braun-orangem Gewande von ihm? Normalerweise waren die Mönche doch stumm und baten nur mit einer Verneigung um Essen. Als der Guru ihn aufforderte, sich von der Mutter und den Geschwistern zu verabschieden und mit ihm zu gehen, wollte er wegrennen und weinte bitterlich. Die Familie hielt ihn aber auf und redete ihm gut zu, er werde es im Kloster viel besser haben als zu Hause. Trotzdem wollte er nicht. Erst als die Mutter sagte, sie werde immer bei ihm sein, auch wenn er sie nicht sehe, gab er nach und trottete mit dem fremden Mann davon. Unterwegs betete er, sein Vater möge auftauchen und ihn wieder nach Hause bringen.
Die Mutter hoffte, dass er im Kloster am ehesten überleben werde und durch die geistliche Bildung ein guter Mensch werden könne – im Gegensatz zu den Kriegern.
Klosterleben
DU vermisste in den kommenden drei Jahren seine Familie, seine Tiere und die Natur sehr, denn er musste tagein tagaus im Kloster bleiben. Der Klosterhof war der einzige Ort, an welchem er die Sonne sah. Er spürte zwar in glücklichen Momenten die geistige Gegenwart seiner Mutter, aber das war kein echter Ersatz. Er musste viele eintönige Arbeiten verrichten, lange still sitzen – für einen lebhaften Knaben besonders quälend – und viele unverständliche Sätze auswendig lernen. Das Einzige, was ihm Hoffnung machte war, dass er schreiben lernte: so würde er später seine eigenen, phantastischen Geschichten aufschreiben können, die ihm immer noch einfielen.
Feuer
Eines Nachts gab es grossen Lärm. Er erwachte und dachte, es müsse etwas Furchtbares geschehen sein. Da kam ein Mönch in das Knabengemach hereingestürmt und forderte sie wild fuchtelnd auf, ihm sofort zu folgen. Er führte sie durch feuchte, dunkle Kellergänge in ein Versteck, tief im Boden. Er löschte die Kerze aus und sie mussten mucksmäuschenstill sein. DU‘s Herz pochte und er fror. DU rettete sich in Gedanken in eine seiner Räubergeschichten. Da wusste er wenigstens, wie sie ausging. Rechts neben ihm zitterte ein grösserer Knabe und links von ihm klapperte sein Freund mit den Zähnen. Ganz leise hörte man von weit her Schüsse und Geschrei. Nach einer langen Zeit kam der Guru. Er blutete am Arm, wahrscheinlich eine Schusswunde. Der Mönch verband ihn mit einem Tuch seines Gewandes. Der Guru sagte, sie müssten fliehen, denn die Roten Khmer hätten das Kloster angezündet. Er wisse einen geheimen Weg. So krochen alle wie die Mäuse durch einen engen Gang. Sie wurden furchtbar dreckig und schürften sich die Knie auf, aber dran dachten sie im Moment nicht, denn sie wollten nur eines: ihr Leben retten. Sie kamen zu einem Ausgang, der mit wildem Gestrüpp zugewachsen war.
Flucht
Der Guru befahl dem Mönch, vorsichtig ein Loch ins Gestrüpp zu beissen und dann lange zu lauschen, ob er etwas von den Rebellen hören könne. Die Knaben hielten fast den Atem an, um ja kein Geräusch zu verursachen. Nach etwa zehn Minuten, die aber allen viel länger vorgekommen waren, sagte der Mönch, er höre nur Tierstimmen und leichten Wind in den Bäumen. Der Guru war zufrieden und schärfte allen ein, dass sie ihm in Einerkolonne und, ohne einen Laut von sich zu geben, nachschleichen sollten. Nur eine dünne Mondsichel schimmerte ab und zu durch die Bäume. Sie sahen fast nichts und mussten sich langsam vorantasten. Sie überquerten barfuss einen Bach, schön einer nach dem andern, und schlüpften sofort wieder ins Gebüsch. Kaum waren sie drüben, hörten sie einen Schuss aus der Richtung, woher sie gekommen waren. Der Guru raunte ganz leise: «Sie sind noch beim Kloster. Wenn wir zum Weg kommen, der ins Chnor-Gebirge führt, zieht der mutigste Junge sein Gewand aus, bindet nur ein Tuch um, schleicht am Rande des Weges ein Stück voraus und kommt dann wieder zurück ins Versteck.» So wurde es nun wohl hundert Mal gemacht. Auch DU war mehrmals Vorbote und fand das sehr spannend. Er sah oft Tiere und ab und zu Frauen, die Holz sammelten. Der Guru wollte aber keine erfundenen Geschichten hören, sondern nur ganz genau das, was DU gesehen hatte. Die Gruppe trat erst dann auf den Weg, wenn ein Späher geklärt hatte, dass sie sicher allein waren. Tagsüber versteckten sie sich im Wald und suchten Beeren und Wurzeln, die sie essen konnten. Jedes Mal, wenn sie von irgendwoher Schüsse oder Stimmen hörten, blieben sie bockstill stehen und gingen erst weiter, wenn der Guru es erlaubte. Die Disziplin, die sie im Kloster gelernt hatten, kam ihnen jetzt zugute. Mit der Zeit hatten alle an Händen und Füssen wunde Stellen von Steinen und Stacheln.
Schlangenbiss
DU wurde in der zehnten Nacht von einer Schlange gebissen. Weil der Guru die Wunde sofort aufschnitt, auspresste und aussog, überlebte der Junge. In der ersten Nacht wurde er getragen, dann konnte er wieder selbst gehen. Er merkte sich das Erlebte für eine seiner Geschichten. Das Verstecken wurde in den nächsten Tagen viel schwieriger, weil sie über Felder gehen mussten. Sobald der Guru etwas Verdächtiges sah oder hörte, pfiff er leise und alle mussten sich flach auf den Boden legen. Oft kamen die Geräusche von Tieren. Besonders lästig waren Hunderudel. Der Mönch konnte aber so hoch und durchdringend pfeifen, dass es den Hunden in den Ohren schmerzte. Meistens liefen sie dann davon. Weil der Guru nicht wusste, in welchen Dörfern Rebellen waren, nahmen sie oft lange Umwege in Kauf. Die Flucht dauerte schon drei Wochen, als der Guru sagte, nun müssten alle noch vorsichtiger sein, denn sie würden jetzt über das Chnor-Gebirge klettern, um über die Grenze nach Thailand zu gelangen.
Schüsse an der Grenze
Die Grenze werde von Soldaten bewacht. Der Guru war zum Glück im Gebirge aufgewachsen. Er kannte die Wege und zeigte den Jungen, wie man nachts klettern musste. Der Grenzpfad wurde auch von Drogenschmugglern benutzt. Das machte die Flucht noch gefährlicher, denn diese waren meist bewaffnet und schossen aus Angst auf alle Unbekannten. An einem Morgen ging der Guru alleine weg, um Verwandte von ihm aufzusuchen. Am Abend brachte er dann Reis mit, der schon gekocht war. Das war für die Mönchsnovizen wie ein Festessen, nach so vielen bescheidenen Mahlzeiten aus der Natur. Je näher sie der Grenze kamen, desto öfter sahen sie Menschen, die offensichtlich auch flüchteten – allerdings mit mehr Gepäck als sie. In einer nebligen Nacht sagte der Guru, diese Nacht würden sie nach Thailand gelangen. Er gehe jeweils ein Stück voran, mache dann den Laut eines Nachtvogels, darauf solle der Mönch mit den Jungen folgen. Keiner der Jungen war je im Ausland gewesen und schon gar nicht auf so abenteuerliche Art. Sie waren gespannt wie Bogensaiten, vertrauten aber ihrem Guru. Dass sie gelernt hatten, sich keine Sorgen zu machen, sondern im Moment zu leben, half ihnen jetzt, die Anspannung klaglos zu ertragen. Vier Stunden so vorzurücken, brachte die Jungen trotzdem an den Rand ihrer Kräfte. Mehrmals hörten sie Geschrei und einmal auch Salven aus Maschinengewehren. Bis zum Morgengrauen gingen sie dann wieder direkt hinter dem Guru her. Er verteilte zum Frühstück wieder Reis und sagte: «Nun sind wir im Land ohne Krieg. Aber ungefährlich ist es weiterhin nicht. Wir werden nun eine spezielle Meditation machen: Esst jedes Reiskorn ganz bewusst und in Dankbarkeit. Das wird euch stärken.» Sie taten wie geheissen und erlebten eine wohlige Entspannung.
In der Fremde
Die weiteren zehn Tage Flucht gingen sie tagsüber auf Fusspfaden. Das war schon mal viel leichter. Und sie erhielten auch ab und zu von Einheimischen zu essen und trinken. Als Mönche mussten sie nicht in ein bereits überfülltes Flüchtlingslager, sondern wurden von einem Kloster aufgenommen. Zum ersten Mal war DU froh, in einem Kloster sein zu dürfen, wenn die Platzverhältnisse auch eng waren. Seine Mutter hatte also doch gut für ihn entschieden. In einem weiteren Kloster, weiter weg von der Grenze, lernte er besser zu schreiben. Er erhielt aber sehr wenig Papier für sich selbst, denn dies galt bereits als persönlicher Besitz und widersprach der Armutsregel. Darum schrieb er mit winzigen Zeichen eine Art Stichworte zu seinen Geschichten auf.
Bestaunt in der Schweiz
Über viele Umwege kam DU schlussendlich als Mönch in die Schweiz, um hier Leute zu unterrichten, die am Buddhismus oder zumindest an der Meditation interessiert waren. Zuerst war er als Flüchtling hier und wurde in seinem orangen Gewand von den Einheimischen (in den Achtzigerjahren) bestaunt wie ein Ausserirdischer. Daran musste er sich gewöhnen. Mit der Zeit flachte dies ab und er konnte seiner Arbeit in Ruhe nachgehen. Buddhisten missionieren nicht. DU leitete also nur Menschen an, die ihn danach fragten. Er durfte auch kein Honorar einfordern, sondern nur das annehmen, was ihm die SchülerInnen freiwillig gaben. Eine reiche Frau finanzierte ihm aber eine bescheidene Wohnung mit Meditationsraum. Um nicht einsam zu sein, nahm er telefonisch Kontakt auf mit andern Mönchen seines Ordens in Europa. Er war als Lehrer besonders beliebt, weil er die Weisheiten in spannende Geschichten einpacken konnte. Sein Heimweh beschrieb er in Gedichten. Das linderte die Herzschmerzen. In Kambodscha herrschte nun das barbarische Pol Pot–Regime. Erst nach zwanzig Jahren durfte er seine Verwandten in Kambodscha besuchen. Seine Eltern waren leider schon gestorben. Eine einzige Schwester konnte er finden. Sie sah viel älter aus, als sie war. Bei einem grossen Weisen lernte er, seelisches Leiden abzulegen und alle Lebewesen zu achten. Danach kehrte er gefestigt in die Schweiz zurück und unterrichtete viele Menschen darin, gelassener und liebevoller zu werden.