In einer lauen Sommernacht 1992, als in Bosnien und Herzegowina der Krieg schon ausgebrochen war, sahen meine Grosseltern ihr schmuckes Häuschen zum letzten Mal. Als sie plötzlich Schüsse hörten, schnappten sie sich nur ihre Schuhe und rannten los. Hinter sich liessen sie in jener Nacht 38 Jahre. 38 Jahre harte Arbeit und glückliches Familienleben. Alles verbrannte: das Haus, der Hof, die Tiere, das Land – ihre Existenz. Nicht ein einziges Foto konnten sie retten, kein einziges Erinnerungsstück ist ihnen geblieben, ausser einer Ruine und der Angst, die meine Grossmutter noch heute manchmal aus dem Schlaf reisst.
Wie meine Grosseltern vor 23 Jahren, fliehen heute Hunderttausende vor Krieg, Gewalt, Hunger, Verfolgungen, vor Unrecht und Unmenschlichkeit, welche sie weder verdient noch verursacht haben. In der Hoffnung auf Sicherheit, auf Frieden, auf Toleranz oder Freiheit verlassen sie ihr Zuhause, ihre Heimat und damit alles, was sie ausmacht; ihr ganzes Leben packen sie in einen Rucksack oder einen Koffer und machen sich auf den Weg in eine ungewisse Zukunft, getrieben von der Angst um sich und ihre Liebsten.
Masslose Überforderung
Tausende von ihnen, meist Syrer, Afghanen und Pakistani, wählen während der letzten Monate insbesondere den Weg durch ein Gebiet, dessen Bewohner diese Situation nur zu gut kennen: den Balkan. Über die Türkei, Griechenland, Mazedonien und Serbien führt sie ihre Route schliesslich nach Ungarn, von wo aus sie sich weiter auf den Weg nach Österreich, Deutschland oder Schweden machen, um dort Asyl zu beantragen.
Obwohl die dortige Bevölkerung grosses Verständnis für die Schicksale dieser Menschen zeigt (brachten doch die Jugoslawienkriege etwa zwei Millionen Flüchtlinge hervor), sind die Regierungen in den betroffenen Ländern mit dem riesigen Ansturm masslos überfordert. Täglich treffen in Serbien 2’000 bis 6’000 neue Flüchtlinge ein, welche nach ihrer erschöpfenden Reise dringend ein Dach über dem Kopf, Essen und medizinische Versorgung benötigen. An all dem mangelt es schon einem beachtlichen Teil der serbischen Bevölkerung.
Besonders kritisch ist die Situation in Mazedonien, einem der ärmsten und unterentwickeltsten Länder Europas, welches mit einer sehr schwachen Infrastruktur zu kämpfen hat. Die Versuche der Regierung, die Flüchtlinge an der Einreise zu hindern, endeten tragisch, als die Polizei im Grenzgebiet Gevgelija mit Blendgranaten auf die Menschen schoss. Mittlerweile hat Mazedonien die Grenzsperre wieder aufgehoben.
Der Anblick, welcher sich zurzeit auf dem Balkan bietet, ist tragisch: Junge Männer laufen barfuss bei 38 Grad auf Bahngeleisen, nur mit einem kleinen Rucksack auf dem Rücken. Frauen und Kinder schlafen auf den Strassen, auf Kartons oder Zeitungen, zugedeckt mit nichts als dünnen Jäckchen. Die Politiker sind überfordert und lassen nichts als leere Floskeln von sich hören.
Wir wissen nie…
Obwohl die Regierungen die Flüchtlinge nicht einreisen lassen wollen oder sie schnellstmöglich an die Nachbarn abzuschieben versuchen, zeigen die Bewohner grosses Mitgefühl, organisieren Demonstrationen und Freiwilligentrupps und bringen Nahrung oder Kleidung zu den Camps. Es scheint, als ob gerade die ärmsten Menschen unseres Kontinents den Schicksalen dieser Menschen mit dem grössten Verständnis begegnen. Dies, während das EU-Land Ungarn an der Grenze zu Serbien gerade einen vier Meter hohen Stacheldrahtzaun zu Ende baut und in Deutschland Anschläge auf Flüchtlingsheime verübt werden.
Meine Grosseltern hatten Glück, begegneten auf ihrer Flucht guten Menschen, die sie aufgenommen haben und konnten so nach dem Krieg in ihr Dorf zurückkehren, sich ein neues Haus mit einem neuen Hof errichten und ihr gewohntes Leben wieder aufnehmen, wenn auch nicht mehr so friedlich wie zuvor. Wie es nun denjenigen ergehen wird, die gerade versuchen, sich in Europa eine neue Existenz aufzubauen, hängt nicht nur von der politischen Situation ab, sondern auch von unserer Haltung gegenüber ihren Schicksalen, von unserem Respekt gegenüber den Opfern, die sie bringen mussten und von unserer Menschlichkeit gegenüber ihrem Leid und ihren Wunden. Schliesslich sehen wir uns als zivilisierte Gesellschaft und sollten uns auch dementsprechend benehmen, denn wir wissen nie, ob nicht auch wir einmal von jemandes gutem Willen abhängig sein werden.
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