Verzwickter Auftrag
«Du bist ein Perspektivenmaler. Du sollst für uns die vierte Dimension sichtbar machen.»
«Die vierte Dimension? Gemäss Einstein ist das die Zeit. Die kann ich nicht malen. In einem Zeichentrickfilm könnte ich sie andeuten.» – «Die Zeit ist in unserer Kultur unwichtig. Wir haben so viel davon, dass wir sie nicht einmal messen wollen. Unsere Wissenschaftler können die vierte Raumdimension berechnen. Aber niemand hat eine visuelle Vorstellung davon.» Alessandro überlegte und schlenderte in den Park hinaus.
Sonderbare Welt
Alessandro bewunderte die vielen schönen Blumen, Bäume, Menschen und Tiere. Sie hatten Ähnlichkeiten mit den irdischen, waren ihm trotzdem allesamt unbekannt. Alessandro kostete vorsichtig einige Früchte. Sie waren süss und mild, einfach köstlich. «Bin ich wohl im Paradies? Nein, da hätte es kaum so viele Menschen. Ich nenne es einfach Perspektiva.»
Alessandro trat in ein offenes Haus und staunte wiederum. Es war gross und innen überall mit Wandbildern bemalt. Sie bildeten aber nicht etwa die Parklandschaft ab, sondern erzählten Geschichten über phantastische und allesamt schöne Welten und Wesen. In einem andern Haus, das noch im Bau zu sein schien, waren bereits Kunstmaler am Werk. Sie lachten viel und besprachen ruhig miteinander, wie die Geschichte weitergehen könnte. Er spürte ihre Freude am spielerischen Kreieren. Er fragte sie, wo er Farben und Pinsel erhalten könne. Sie lachten über seine Frage und einer sagte ihm dann, Farben und Pinsel gebe es in jedem Haus. Aber leere Wände seien schon schwieriger zu finden. Er fragte, ob er an die Decke malen dürfe. Wieder schallendes Gelächter. Einer fragte ihn: «Kannst du fliegen?» – «Das nicht. Aber vielleicht gibt es ein Baugerüst.» Sie schauten einander verblüfft an. Dieses Wort kannten sie offenbar nicht. Er beschrieb es mit den Händen. Nein, das gab es hier nicht.
Wo die Häuser wachsen
«Wie baut ihr denn ein Haus?» – «Wir lassen es von unten wachsen, wie die Bäume.» Er gab die Idee einer Deckenmalerei nicht auf, sondern suchte sich Baumaterial. Am nächsten Tag sah er Frauen und Männer, die singend etwas kneteten. Es war eine Art Pilz, den sie mit einer Flüssigkeit vermischten, damit sie ihn leicht formen konnten. Diese Grundbausteine werden später gelenkt wachsen. Er liess sich bei ihnen nieder und lernte in den nächsten Tagen dieses Handwerk, das sie natürlich als ein Spiel ansahen und als ‚Pilzmusik‘ bezeichneten. Er sang mit. Ausgerüstet mit dem sonderbaren Material liess er für sich einen hohen Liegetisch wachsen, der ihm erlaubte, seine Bilder auch an eine Decke zu malen. Dafür suchte er sich ein unbewohntes Haus. Eines stand auf drei Baumstrünken im Wasser. Eigentlich war es nur eine hohle Kugel von etwa zehn Metern Durchmesser. Hatte es bisher niemandem gefallen? Die Hülle war aus einem Material, das das Licht durchliess, ähnlich wie ein Milchglas. Es war wie gemacht für sein Werk. Mit Glasfarben könnte er geheimnisvolle Lichtspiele hineinzaubern.
Wie finde ich die vierte Dimension?
Alessandro überlegte sich folgendes: «Ein Bild hat nur zwei Dimensionen. Durch perspektivisches Malen erzeuge ich aber die Illusion einer dritten Dimension. Wie komme ich zu einer vierten?» Er setzte sich in die Mitte des Raumes und liess seine Phantasien frei fliegen. Plötzlich kam ihm ein neuer Gedanke: «Der ganze Innenraum muss EIN Bild sein. Dann habe ich bereits drei Dimensionen, ohne eine illusionäre Dimension. Das Illusionäre wäre dann die vierte Dimension. Also werde ich Wände, Decke und Boden bemalen, das heisst, die ganze Innenfläche der Kugel. Nun lege ich mich zur Ruhe und schaue, was mein Unbewusstes im Traum mit diesen ersten Ideen anfangen kann.»
Ein Traum
Alessandro träumte von einem üppig wachsenden Wald, der menschenleer war. Die meisten Bäume wuchsen normal aus dem Boden in die Höhe. Einige Bäume mit spiraligen Stämmen und spitzen Kronen kamen aber wie aus dem Unendlichen. Er hatte keine Ahnung, ob sie irgendwo verwurzelt waren oder ob sie schwebten. Sie passten auch gar nicht in die übliche Perspektive, die im Wald ja sonst sehr deutlich war – wenn auch nicht einfach zu malen.
Beim Erwachen war er leicht verwirrt. Er schrieb den Traum sofort auf und versuchte dann, sich das Bild mit geschlossenen Augen zurückzuholen. Es gelang ihm nicht ganz. Vermutlich wollte sein kritisches Bewusstsein dieses unmögliche Bild korrigieren.
Nach dem Frühstück legte er sich rücklings ins Wasser und betrachtete den Himmel. Nach einiger Zeit hatte er das Gefühl, im blauen Himmel zwischen den Wölkchen zu schweben. War das herrlich! Und so entspannend, dass sich sein Geist für Neues öffnen konnte. Ein Geistesblitz sagte ihm, dass die vierte Dimension aus dem Unendlichen kam. Wie aber sollte er sie darstellen?
Grässliches malen
Er unternahm eine lange Wanderung durch das neue Land Perspektiva. Alles war so schön und lieblich – wurde das nicht langweilig, auf die Dauer? Suchten die Menschen darum nach der vierten Dimension? Sollte er etwas Grässliches malen?
Was konnte den Menschen hier unmöglich vorkommen? «Aaah», entfuhr es ihm, ich muss die Perspektiven so mischen, dass sie nach unserem Wissen unmöglich zusammenpassen. Dafür nehme ich am besten unfertige Häuser. Ich male Häuser, die man nie bauen könnte – ausser in einer Welt mit vier Dimensionen. Diese sind umgeben von Bäumen, die aus allen Himmelsrichtungen kommen, ohne irgendwo verwurzelt zu sein und überall schauen grässliche Tiere hervor, deren Körper komisch verrenkt sind. Das wird ein Heidenspass!
Auf dem Rückweg zu seinem Kugelhaus holte er sich aus verschiedenen Gebäuden die krassesten Glasfarben, die er finden konnte. Ein solcher Malauftrag war schon einmalig! Aber was war danach? Als er Orchidee fragte, lächelte sie nur vielsagend. Er getraute sich nicht, weiter zu fragen.
Alessandros verrücktestes Bild
Am nächsten Tag machte er sich ans Werk. Zuerst bemalte er den Boden mit unmöglichen Abgründen und mit Gebüsch, das aus dem Nirgendwo zu kommen schien. Wege verdrehten sich so, dass ein Fussgänger die Füsse einer Fliege gebraucht hätte, um seitlich und kopfüber darauf zu gehen.
Was für ihn neu war: er sang beim Malen. Das beflügelte ihn zu kuriosen und verspielten Darstellungen. Die Wände und die Decke zeigten eine verschlungene Welt von nicht begehbaren Treppen, irrealen Mauerperspektiven, die sich im Himmel verloren und Bäumen, die aus allen Richtungen heranwuchsen und einem zu erdrücken schienen. Die Ausschnitte von Himmel dazwischen leuchteten in fluoreszierenden Farben. Eine so phantastische Welt hatte er noch nie gemalt. Hier, in diesem Haus über dem Wasser, flossen ihm die Ideen kontinuierlich zu. Allerdings kam es vor, dass er selbst die Orientierung verlor und nicht mehr wusste, was unten und was oben war. Dann schloss er die Augen, stampfte auf den Boden und erfühlte die Wände, bis er sich wieder ein Bild vom realen Raum machen konnte. Anschliessend öffnete er langsam ein Auge und fixierte einen Punkt. So verschwanden für einen Moment die illusionären Perspektiven und er konnte an der anvisierten Stelle weitermalen. Die Nächte verbrachte er draussen. Er befürchtete, dass er sich sonst am Morgen nicht mehr zurechtfinden könnte.
Das Experiment mit Orchidee
Dieses Malspiel dauerte sieben Wochen. Danach war Alessandro erschöpft wie ein Marathonläufer. Er schlief zwölf Stunden. Dann überlegte er, ob seine Darstellung die friedlichen Leute hier schockiere. Eigentlich musste er das annehmen, denn es war noch viel irritierender als ein Spiegelsaal. Darum montierte er vom Eingang zur gegenüber liegenden Seite ein rotes Seil, an welchem sich die Besucher halten konnten. Nun erst ging er zu Orchidee und berichtete ihr, wie der Malprozess verlaufen war und was er befürchte. Orchidee sagte, die Menschen hier seien an phantasievolle Märchen gewöhnt. Das würde ihnen sicherlich helfen. Sie selbst sei gerne seine Versuchsperson. Alessandro bestand darauf, dass er Orchidee ins Haus begleiten wolle, um sie notfalls wieder hinaus führen zu können. Sie lächelte und nickte. Er wusste nicht, was sie dachte, wollte aber wiederum nicht fragen.
Schweben in der vierten Dimension
Beim Eingang sagte er: «Schaue vorerst nur hinein und folge dann dem roten Seil. Wenn es dir übel wird, schliesse die Augen und komme mit mir zurück.» Beide gingen hinein. Orchidee staunte wie ein Kind, das zum ersten Mal im Zirkus ist. Nachdem sie das Rundumbild eingehend betrachtet hatte, legte sie sich rücklings auf den Boden. Sie sagte: «Gemäss Theorie hebt die vierte Dimension die Schwerkraft auf. Ich fühle mich ganz leicht. Und immer leichter. Halte mich bitte an der Hand.» Er reichte ihr seine rechte Hand und zog nur wenige Gramm nach oben. Sie schwebte tatsächlich. Nun war er derjenige, der staunte. Sie sang mit wunderschöner Stimme: «Ich schwebe in der Welt der Phantasie …» Nach einer Weile, die ihm als Ewigkeit vorkam, sagte sie: «Stelle mich bitte auf die Füsse und führe mich hinaus.» Er war froh um das Seil, das ihm Orientierung gab, und tat wie geheissen.
Orchidee dankte ihm und er fragte sie, warum denn er nicht schweben könne. Sie antwortete: «Als Maler fixierst du deinen Blick zu sehr auf einzelne Bildausschnitte. Ich hingegen versuche, so viel wie möglich zu sehen und zu spüren.» – «Das muss ich auch ausprobieren.» – «Du kennst den Vorgang bereits, denn du bist durch dein Bild hierher geflogen.» – «Gut. Das war aber unfreiwillig. Führst du mich?» Sie gingen zusammen hinein und Alessandro legte sich auf den Boden. Er versuchte, ganz gut zu schauen. Das half aber nicht. «Kennst du den weiten Blick aus der Meditation?» – «Natürlich. Dass ich nicht selbst darauf kam … Er gelingt nur, wenn man ganz angstfrei ist.» Er löste alle Muskeln und liess die Augen sehen, wie sie selbst sehen wollten. Wie ein Astronaut schwebte er sodann in seinem Gemälde herum. Als er zur unmöglichsten Perspektive blickte, zog es ihn dorthin. Orchidee hielt ihn zurück und sagte: «Schliesse deine Augen. Genau da im Bild ist dein Ausgang, wenn du später auf die Erde zurückwillst. Nun lade ich dich aber zu einem grossen Fest ein, denn du hast uns die vierte Dimension gemalt.» Alessandro war noch etwas benommen, aber glücklich. «Phantasie sei Dank», dachte er. Ob Alessandro je auf die Erde zurückkehrte, ist nicht bekannt.