Der Schreck war gross, als ich zum ersten Mal erfuhr, dass in der Schweiz ein Drittel aller Lebensmittel weggeworfen wird. Würde man den Verlust eines Jahres auf Lastwagen verladen, so las ich, gäbe das eine Lastwagenkolonne von Zürich bis nach Madrid. Inzwischen wird dies von vielen Seiten bestätigt. Auch ökonomisch lässt sich die Verschwendung der Lebensmittel offenbar beziffern: Der Jahresverlust beträgt etwa eine Milliarde Franken.
Etwa die Hälfte der Verluste entsteht in privaten Haushalten. Durchschnittlich wirft in der Schweiz jede Person pro Tag 320 Gramm Lebensmittel weg. Doch nicht nur Haushalte tragen zum Foodwaste bei: Schon bei der Ernte werden weniger ansehnliche Früchte und Gemüse
aussortiert. Weitere Verluste entstehen im Grosshandel. Im Laden werden abgelaufene Produkte weggeworfen, im Restaurant bleiben bei übergrossen Portionen Reste im Teller liegen.
Seit 2013 in der Schweiz
Erfreulich ist, dass jetzt eine Gegenbewegung entstanden ist. Das Bewusstsein für dieses Problem ist geweckt und viele engagierte Leute wollen die Problematik aktiv angehen. Läden entstehen, die noch essbare, aber nicht mehr superfrische Ware verkaufen. Öffentliche Kühlschränke bieten Gelegenheit, abgelaufene, aber noch essbare Lebensmittel abzugeben oder auch abzuholen.
In Zürich entstand 2013 die erste der «Äss-Bars», welche Backwaren verkaufen, die bereits einen Tag alt sind. Inzwischen gibt es die Äss-Bar auch in Bern, Biel, Luzern, Basel und Winterthur. In Kopenhagen entstand 2016 der erste Supermarkt für solche Lebensmittel. Auch die Grossverteiler steigen auf den Zug auf. Coop bietet weniger schöne Produkte zu günstigen Prei-sen an. Coop und Migros wirken bei der «Schweizer Tafel» mit, einer Organisation, die überschüssige Lebensmittel an soziale Projekte verteilt. Manor beliefert Gassenküchen und Heime. Die Idee beginnt, Fuss zu fassen.
Wichtig ist natürlich, wie wir uns als KonsumentInnen verhalten. Die Geschäfte produzieren ja nur so viel, wie wir auch kaufen. Die Problematik ist bei vielen Menschen angekommen. Wir können hoffen, dass die Wegwerfmentalität abnimmt. Doch auch in der Politik sind Massnahmen nötig. Gesetze müssen dort den Weg weisen, wo freiwilliger Einsatz nicht ausreicht.
«Die Idee kam sofort gut an»
Interview: Deborah Nydegger (20)
Die Äss-Bar, ein wunderschön eingerichteter Laden an der Marktgasse 19 in Bern. Natalie Ernst stellt sich den Fragen.
Was war die Grundidee, die Äss-Bar zu gründen?
Natalie Ernst: Ursprünglich kam die Idee aus Zürich. Dort teilten vier Freunde die Meinung, der Lebensmittelverschwendung in der Schweiz müsse Gegensteuer gegeben werden. Eine Studie hatte belegt, dass ein Drittel aller Lebensmittel in der Schweiz weggeworfen wird. Die vier entwickelten die Idee, einen Laden zu gründen, um noch essbare Lebensmittel, die sonst weggeworfen würden, zu verkaufen. Die Idee kam sofort gut an. Zwei Jahre später waren es wiederum vier Kameraden in Bern, die dieselbe Idee hat-ten. Sie hatten den Film «Taste The Waste» angesehen und fanden, dass sie etwas gegen die Lebensmittelverschwendung unternehmen müssten. Sie entdeckten im Internet die «Äss-Bar» in Zürich, setzten sich mit den Gründern in Verbindung und gründeten die «Äss-Bar» in Bern.
Wie reagierten die Bäckereien auf eure Anfrage, ihre Lebensmittel zu spenden?
Also erstens spenden sie die Lebensmittel ja nicht. Die Bäckereien haben eine Gewinnbeteiligung. Zudem haben sie so weniger Abfall- und Entsorgungskosten. Sie können nur gewinnen. Anfangs gab es schon noch etwas Skepsis, zum Beispiel ob wir nicht eine Konkurrenz darstellten oder ob die Lebensmittelqualität gewährleistet wäre. Doch die Idee überzeugt immer mehr Bäckereien. Inzwischen fragen bereits Bäckereien von sich aus an, ob sie bei uns mitmachen dürfen. Das hängt wohl auch damit zusammen, dass in der Bevölkerung das Bewusstsein für das Thema «Foodwaste» ganz allgemein gewachsen ist.
Du glaubst demnach, dass in der Gesellschaft ein Umdenken stattfindet?
Natürlich braucht so etwas Zeit. Vielleicht findet der Wandel noch nicht in der Umsetzung, jedoch sicher in den Gedanken der Menschen statt. Wir sehen die Veränderung auch an unseren steigenden Umsatzzahlen.
Was könnten wir selbst an unserem Verhalten ändern, damit weniger Foodwaste entsteht?
Das ist eine sehr gute Frage, denn etwa die Hälfte des Foodwaste entsteht in den privaten Haushalten. Es gibt eine Unzahl von Anregungen, wie Foodwaste vermieden werden kann: Man kann Menüpläne erstellen oder in Geschäften einkaufen, die Foodwaste vermeiden. Man kann sich informieren, wie Lebensmittel produziert werden. Dabei muss ich zugeben, dass ich meine Ziele auch nicht vollständig umsetze. Menüpläne mache ich kaum, aber zumindest schaue ich vor dem Einkauf in den Kühlschrank, damit ich nicht alles doppelt einkaufe. Wenn ich mir zu viel abfordere, mache ich schlussendlich gar nichts. Jede und jeder soll das tun, was für sie oder ihn möglich ist.
Frankreich hat ein Gesetz gegen die Lebensmittelverschwendung erlassen. Denkst du, dass die Schweiz das auch tun sollte?
Ja, die Politik sollte auch ihren Beitrag leisten, die Gesetze sollten aber nicht allzu restriktiv sein. Freiwilligkeit und gesetzliche Vorschriften könnten sich ergänzen.
Hast du das Gefühl, die Äss-Bar könne sich noch weiter vergrössern?
Es gibt Grenzen, die wir überwinden könnten, so zum Beispiel die Ladengrösse oder die Anzahl Mitarbeitende. Was die Expansion der Verkaufsstandorte anbelangt, kämen wohl nur noch zwei oder drei Westschweizer Städte in Frage. Es braucht eine bestimmte Anzahl Bäckereien in einer Stadt, um genügend Backwaren für den Verkauf zu erhalten. Was möglich wäre, sind Kooperationen mit anderen Unternehmen oder mit Grossverteilern. Der Bereich Catering hingegen wächst im Moment sehr stark, hier gibt es sicher noch Luft nach oben. Nicht zu vergessen ist zudem die Bewusstseinsarbeit, die wir fördern wollen. Wir besuchen Schulen und nutzen die Chance, die SchülerInnen über die Lebensmittelverschwendung aufzuklären.