
Liebe Alena,
im Juni ist wieder Frauendemo in Bern. Wir müssen unbedingt dabei sein, ich 1950er-Frau, und du so jung. Das Frauenstimmrecht ist erkämpft; das war ein harter Brocken. Jetzt spüren wir endlich unsere «Power»: Selbst ist die Frau, dann dauert es nicht wieder 100 Jahre, bis etwas geht. Man darf ja mal träumen.
Hast du bei deiner Berufswahl überlegt, ob du davon alleine leben könntest? Ich nie, mein Vater sagte: «Mädchen heiraten ja doch, was soll da die Investition.» Mein Lehrerinnenpatent kam zu den Akten, dann erzog ich drei Kinder. Mein Mann war meine leibhaftige Lebensversicherung, wirklich! Das ist heute zu riskant. Hab Glück gehabt. Ich atmete tief durch, als ich dem Pfarrer aufrichtig nachsprach: «In guten und in schlechten Zeiten, bis dass der Tod euch scheide.»
Ihr jungen Frauen lebt früh selbstbestimmt, aber was, wenn ihr doch heiratet? Dann kommt das Problem der Vereinbarkeit von Beruf und Familie. Wie stellst du dir das vor? Es gibt jetzt Krippen und Kitas, und der Haushalt? Mein Mann verschwand frühmorgens, am Abend sah ich ihn wieder. Was hältst du von diesen Slogans für die Demo: «FAIR TEILEN», «FIFTY – FIFTY», «MÄNNER DENKT MIT, ES GEHT UMS GANZE». Stimmrecht ist okay, aber Corona zeigt es doch: in der Realität hat sich das traditionelle Rollenbild gut gehalten. Wie schnell zieht die Frau wieder die Familienkarte!
Liebe Alena, ich hatte ein schlechtes Selbstvertrauen, konnte nicht Nein sagen, fühlte mich immer minderwertig. Lass uns dranbleiben. Weisst du, was schlau ist? Sich immer informieren, sich weiterbilden und sich ausprobieren, das macht stark. Arbeit ist ein toller Erfahrungsbereich. Nächstes Ziel: «Gleiche Lohn für gleiche Arbeit.» Ich freu mich auf den Juni, ich lache über meine verstaubte Frauenrolle von damals, und du freust dich, dass du kräftig mitmischen kannst.
Hab‘s gut, Telsche
Liebe Telsche,
Ja, das Frauenstimmrecht war ein grosser Schritt, das kann ich mir vorstellen. Ich denke, die Frauen von damals feierten diesen Erfolg! Ich selbst fühlte mich in meinem Leben nie benachteiligt als Frau. Ich durfte anziehen, was ich wollte, erhielt bisher immer einen fairen Lohn, Frau und Mann waren bei meinen ArbeitgeberInnen gleichgestellt. Das Einzige, was mir auffällt: Nach wie vor gibt es mehr Männer in Führungspositionen als Frauen. Woran liegt das wohl? Traut man uns Frauen weniger zu, scheinen wir zu schwach, um in brenzligen Situationen Tacheles zu reden? Ich denke, dass ist ein Bild, dass immer noch in vielen Köpfen ist.
Ich habe mir noch nie Gedanken gemacht, ob ich von meinem Lohn allein leben könnte. Mit Kind wäre das sicher schwierig; allerdings sehe ich viele, bei denen das, auch mit den heutigen Unterstützungen, gut funktioniert.
Ich weiss noch nicht genau, wie ich mir Familie in der Zukunft vorstelle, ob mit oder ohne Kind. Heutzutage gibt es auch grossartige Aufstiegsmöglichkeiten für Frauen. Dazu kann das Reisen auch immer günstiger werden. Immer schneller und weiter. Sehr attraktiv.
Wenn ich aber beschliesse, eine Familie zu gründen, möchte ich Zeit mit meinen Liebsten verbringen können. Gerade die ersten Jahre eines Kindes sind doch die faszinierendsten! Davon würde ich so wenig wie möglich verpassen wollen. Auf ewig könnte ich mir aber nicht vorstellen, «nur» als Hausfrau und Mutter tätig zu sein. Ein Job gibt Abwechslung. Heutzutage ist es leider auch schwer, nur mit einem Lohn über die Runden zu kommen. Da müsste mein zukünftiger Mann streng arbeiten. Das wäre nicht fair.
Die Erziehung meiner Kinder möchte ich nicht einer Kita überlassen und wenn, dann auch nur sehr niederprozentig. Der Kontakt zu anderen Kindern und Kulturen kann ja auch förderlich sein. Ich selbst war in einem Vor-Kindergarten mit Kindern mit Behinderung. Das hat mich geprägt. Ich erinnere mich gerne daran zurück.
Zur Gleichberechtigung von Mann und Frau müsste aber in meinen Augen noch viel geschehen! Ich bin gespannt, was noch alles kommt.
Liebe Grüsse, Alena