Monika Keller, Projektleiterin Wirtschaftsförderung Wirtschaftsraum Thun (WRT), begrüsst im Rahmen des Digitaltags Schweiz 2021 die FachreferentInnen und das Publikum im Gymnasium Schadau. Beim dritten gemeinsamen Auftritt mit UND Generationentandem soll der Anlass dazu beitragen, Hemmschwellen abzubauen und digitales Know-how in der breiten Bevölkerung zu verbreiten. Der etwas abstrakte Begriff «Future Skills» habe für sie nicht nur mit neuen Technolgien und der Digitalisierung zu tun. Die Zukunft fordere viel Wissen von der Gesellschaft, breites und fundiertes Wissen. Sie selbst könne heute alles brauchen, was sie vor Jahren an diesem Gymnasium gelernt habe – eben nicht nur Mathematik und Informatik. Die Digitalisierung fordere auch dazu auf, sich mit ethischen, politischen und gesellschaftlichen Fragen auseinanderzusetzen.
Auf dem Podium im Gymnasium Schadau treffen sich drei Fachleute mit je unterschiedlichem Fokus und beruflichem Hintergrund. Sie diskutieren, über welche «Future Skills» wir als Gesellschaft, als Berufsleute und in unserem privaten Umfeld verfügen müssen, um den Herausforderungen der Zukunft gerecht zu werden.
Valérie Müller, Researcher bei Avenir Suisse untersucht als Betriebs- und Volkswirtschafterin Veränderungen in der Berufs- und Arbeitswelt.
Simon Grimm studiert Medizin erforscht die Entwicklung neuer Biotechnologien und deren künftigen Nutzen für die Medizin.
Dr. Matthias Stürmer, Leiter der Forschungsstelle Digitale Nachhaltigkeit der Universität Bern, bildet Studierende aus, die eine berufliche Zukunft in der Informatik anstreben.
Im Publikum sitzen neben jungen GymnasiastInnen Lehrkräfte und Ausbildnerinnen mitttleren Alters und interessierte SeniorInnen.
Lara Thurnherr (21) moderiert den Abend, hat herausfordernde Fragen vorbereitet und freut sich auf Antworten. Das Thema «Digitalisierung» löst ganz unterschiedliche Reaktionen aus – Lust auf mehr Möglichkeiten, aber auch Zukunftsängste und Abwehr.
Digitale Nachhaltigkeit – was bedeutet das?
Matthias Stürmer ist Dozent für «digitale Nachhaltigkeit». Er kritisiert, dass viele NutzerInnen – sowohl Firmen wie auch Verwaltungen und Individuen im Rahmen der digitalen Möglichkeiten viel zu kurzfristig denken. Welches Betriebssystem passt, welches Smartphone ist ideal, wie speichere ich meine Daten?
Die Entwicklungen der Zukunft bedingen aber, dass wir den Umgang mit Daten über Jahrzehnte hinaus planen und sichern. Das digitale Wissen muss der gesamten Gesellschaft stärker zugänglich gemacht werden, um zu verhindern, dass Monopolfirmen den weltweiten Datenaustausch steuern. Wir müssen digital unabhängig bleiben von ganz grossen Treibern wie Google oder Apple, bei welchen die Gewinnoptimierung im Vordergrund steht, nicht der Nutzen für die Gesellschaft. Auch Regierungen weltweit nutzen die Möglichkeiten der Digitalisierung zum Schlechten – Wahlmanipulationen, Fehlinformation, totale Bevölkerungskontrolle.
Nachhaltigkeit bedeutet insbesondere auch, dass wir unsere eigenen digitalen Bedürfnisse befriedigen, ohne künftigen Generationen zu schaden.
Auch Simon Grimm setzt sich für eine lebenswerte Zukunft ein. Im Sinne des «effektiven Altruismus» plädiert er dafür, Ressourcen optimal zum Nutzen der Menschheit einzusetzen. Er beobachtet vor allem die rasante Entwicklung im Bereich der Biotechnologie. Nachdem seit 1970 die Digitalisierung rasch voranschritt, boomen heute biotechnologische Erfindungen und Möglichkeiten. Diese bringen der Gesellschaft sehr grossen Nutzen. So wurde effektiv innert kürzester Zeit ein Impfstoff gegen das Coronavirus gefunden – in weltweiter Zusammenarbeit. Die Zulassung dauerte dann erheblich länger. Gleichzeitig drohen mit der Biotechnologie riesige Gefahren – hochwirksame Verfahren beispielsweise zur Virenherstellung können in die falschen Hände geraten und die Welt bedrohen. Hier braucht es Wachsamkeit, auf wissenschaftlicher und politischer Ebene, und in der Folge entsprechende Regulierungen und Gesetze.
«Die Biotechnologie kann der Menschheit grössten Nutzen bringen, aber auch immensen Schaden zufügen.»
Simon Grimm
Wie sinnvoll sind Prognosen – und sind sie überhaupt möglich?
Valérie Müller von Avénir Suisse beobachtet die Entwicklungen im Arbeitsmarkt und in der Bildung und publiziert Forschungsergebnisse, die für die Gestaltung einer wünschbaren Zukunft richtungsweisend sind. Dabei basieren diese auf Erfahrungswerten, aber auch auf Tendenzen, die sich hier und weltweit abzeichnen. Gewisse Prognosen, wie die Entwicklung der Bevölkerung, sind relativ einfach zu stellen. Aber es wäre kaum sinnvoll, die Wirtschaftsentwicklung über mehr als 10 Jahre hinaus zu prognostizieren. Und eine Pandemie und deren Auswirkungen auf die Wirtschaft können überhaupt nicht vorausgesagt werden.
Was müssen wir 2030 in der digitalen Welt besser können oder intensiver nutzen?
Für Simon Grimm und Matthias Stürmer ist absolut klar, dass unbedingt alle schon in der Schulzeit programmieren lernen müssen. Grundkenntnisse seien unabdingbar, um mit unseren digitalen Geräten kommunizieren zu können. Es geht darum, sich vom reinen Konsumenten zum «Koch», zur «Köchin» zu entwickeln. Ich esse nicht einfach, was mir vorgesetzt wird, sondern ich lerne kochen und gestalte die Mahlzeit nach meinem Gusto.
«Nicht nur essen, was vorgesetzt wird, sondern selber Lust am Kochen entwickeln.»
Matthias Stürmer
Wir als Individuen und Gesellschaft dürfen digitales Wissen nicht an eine akademische oder politische Elite delegieren und darauf trauen, dass dieses Wissen nicht missbraucht wird. Gerade in akademischen Berufen, in der Politik, in anderen Wissensberufen ist ein profundes Verständnis des Programmierens notwendig, um Gefahren rechtzeitig zu erkennen und Gegensteuer zu geben.
Computersprachen seien nichts anderes als weitere Fremdsprachen und auch so einfach zu erlernen. Die Universität bietet heute Programmierkurse schon für Kinder ab 10 Jahren an. Auch im Lehrplan 21 sind Informatik und Programmieren aufgeführt. Noch fehlen genügend Lehrkräfte, die dies unterrichten können. Kinder werden heute früh für die Gefahren in der digitalen Welt sensibilisiert. Sie werden angehalten, sinnvoll mit den neuen Möglichkeiten umzugehen. Es darf nicht sein, dass sich die Gesellschaft von Facebook-Headlines und Twitter-Einträgen informieren lässt – wir brauchen einen breiten und seriösen Wissenszugang, um die Zusammenhänge in der Welt zu verstehen.
Wir sollen auch in Zukunft unsere Computer als hilfreiche «Diener» und Werkzeuge nutzen. Wir müssen mit ihnen kommunizieren, anstatt zu Opfern einer Digitalisierung zu werden, die manipulativ missbraucht wird.
Simon Grimm ergänzt: «Wir müssen die Experten bleiben – wir müssen unser menschliches Wissen kontrolliert und bewusst in die Maschinen einbauen.»
Daneben braucht es ergänzende Skills wie Eigeninitiative, analytisches Denken, Wissen zur Informationsbeschaffung. Matthias Stürmer benennt die 4 Kernkompetenzen für das 21. Jahrhundert – kreatives Denken, kritisches Denken, Kommunikationsfähigkeit und die Kompetenz, vernetzt und in Teams zu arbeiten.
Auswirkungen auf den Arbeitsmarkt – wie wird es 2030 aussehen?
Valérie Müller bestätigt, dass wir die digitale Sprache zumindest im Ansatz beherrschen müssen. Genauso wichtig sei aber auch die Entwicklung sozialer Kompetenzen, da sich die Schweiz rasch hin Richtung Dienstleistungsgesellschaft verändert und viele berufliche Tätigkeiten automatisiert werden. So wie gewisse Berufe verschwinden, entstehen auch neue. Seit Beginn der Industrialisierung sei dies zu beobachten. Mit der Überalterung der Gesellschaft und der zunehmenden Berufstätigkeit von Müttern entstehe viel neuer Betreuungsbedarf. «Kein Roboter kann Beziehungs- und Betreuungsarbeit übernehmen.»
«Kein Roboter kann Beziehungs- und Betreuungsarbeit übernehmen.»
Valérie Müller
Sie sei deshalb nicht so skeptisch im Hinblick auf die Zukunft von Arbeitnehmenden. Die Schweiz habe zudem ein funktionierendes politisches System, das grundsätzlich sorgfältig und kritisch mit neuen Technologien umgehe und demokratische Mitgestaltung zulasse.
Fakt bleibt, dass auf dem Arbeitsmarkt nicht alle mit der rasanten digitalen Entwicklung mithalten können. Sie würden mit arbeitsmarktlichen Massnahmen und allenfalls Sozialleistungen aufgefangen.
Dazu meint Simon Grimm, dass Arbeit mehr bedeutet als ein geregeltes Einkommen, sie ist auch sinnstiftend. Fällt sie weg, müssen neue Formen einer gesellschaftlichen Teilhabe angeboten werden. Ein bedingungsloses Grundeinkommen allein würde diese Problematik nicht lösen.
Matthias Stürmer ergänzt, dass heute nicht nur die «blue collar jobs» verschwinden, sondern auch Büroarbeiten, die «white collar jobs» zunehmend automatisiert werden. Menschen aus dieser Branche haben aber meist einen besseren Zugang zur Weiterbildung. Lebenslanges Lernen sei notwendig und es sei unabdingbar, die gesamte Gesellschaft mit auf die digitale Reise zu nehmen.
«Wir müssen die gesamte Gesellschaft, alle Generationen, mit auf die Reise in die digitale Zukunft nehmen.»
Matthias Stürmer
Herausforderungen der Zukunft?
Simon Grimm wünscht sich, dass wir künftig dank neuer Technologien unter optimalem Einsatz der vorhandenen Ressourcen sehr viel Gutes für die Welt tun können. Auch sei es wichtig, die Wirtschaftsleistung stark zu steigern, damit Bildung und Forschung auf hohem Niveau erhalten bleiben.
Valérie Müller hofft, dass neue Entwicklungen genutzt werden, um anstehende Probleme wie beispielsweise den Klimawandel effektiv anzugehen. Wir müssten Ideen und Lösungen zu Ende denken und den Blick auf das grosse Ganze nicht aus den Augen verlieren.
«Das grosse Ganze» – die wenigsten von uns wissen, welch gigantischen Stromverbrauch die Digitalisierung mit sich bringt. Matthias Stürmer illustriert, dass die Digitalisierung bereits heute 4% des CO2-Ausstosses verursacht. In zehn Jahren wird voraussichtlich 20% des weltweiten Strombedarfs von Rechenzentren für die weltweite Datenübertragung (Netzwerke, Cloud) erzeugt. Es sei schon fast klimaschädlicher, meint Matthias Stürmer, ein youtube-Video zu schauen als in ein Flugzeug zu steigen.
«Es ist schon bald klimaschädlicher, ein youtube-Video zu schauen als in ein Flugzeug zu steigen.»
Matthias Stürmer
Wir dürften uns nicht zu sehr zurücklehnen, bemerkt Matthias Stürmer kritisch. Der Digitaltag beispielsweise werde in seiner Bedeutung und Wirkung deutlich unterschätzt. Solche Anlässe seien dringend notwendig, um die Bevölkerung für die anstehenden Fragen zu sensibilisieren und aufzuklären. Digitalisierung hat grosse Konsequenzen für die Welt – im Guten wie im Schlechten. Wir SchweizerInnen seien als Gesellschaft zu technologiefeindlich – das sei eine innere Gefahr, dass die breite Bevölkerung digital zu wenig à jour sei.
Die digitale Zukunft mitgestalten
Matthias Stürmer rät jungen Menschen, sich bei der Berufs- und Studienwahl auch mit der der persönlichen Sinn- und Wertehaltung auseinanderzusetzen. Wofür will ich meine Karriere einsetzen? Was bringe ich in die Gesellschaft ein? Was möchte ich künftigen Generationen übergeben? Wo kann ich am meisten bewirken?
Und die Alten – wie können sie mitreisen? Matthias Stürmer empfiehlt, sich der digitalen Welt der Jungen zu öffnen, sich zu interessieren, Kurse zu besuchen und auf keinen Fall «auszusteigen» – wer digital nicht am Ball bleibt, verliert ganz wichtige Kommunikationsmöglichkeiten und letztendlich ein Stück weit die Zugehörigkeit zur Gesellschaft.
Nochmal neu anfangen?
Abschliessend stellt Lara Thurnherr die Frage, was die Frau und die beiden Männer auf dem Podium rückblickend ihrem jugendlichen Selbst heute raten würden. Was braucht es, um in einer so rasend schnell sich entwickelnden Welt zu bestehen?
Valérie Müller würde wohl im Gymnasium sehr viel aufmerksamer alle Fächer ernst nehmen. Neben naturwissenschaftlichen Fächern seien auch in einer digitalisierten Welt Sprachen, die Fähigkeit, sich schriftlich präzise auszudrücken, sehr wichtig. Ein breites Interesse an unterschiedlichen Themen und die Kompetenz der Selbstorganisation seien heute grundsätzlich für jede Berufstätigkeit notwendig.
Matthias Stürmer würde heute noch länger im Ausland Studien- und Arbeitserfahrung sammeln. Dies dürfe ruhig auch in einer ganz andersartigen Kultur sein. Und Simon Grimm empfiehlt ebenfalls einen längeren Auslandaufenthalt – allerdings solle man damit unbedingt ein klares Ziel verfolgen.