Wir befinden uns im Zeitalter der personalisierten Medizin, in dem zwar einzelne Therapien auf das Individuum zugeschnitten werden, gleichzeitig aber die Unterschiede zwischen Mann und Frau noch viel zu wenig medizinische Beachtung finden. «Das ist ein grosses Versäumnis», erklärt uns Prof. Dr. med Cathérine Gebhard (43), Oberärztin an der Klinik für Nuklearmedizin des Universitätsspitals Zürich (usz), denn genau darin liege die grosse Chance der Gendermedizin: Stimmt man Diagnostik und Therapien auf die unterschiedlichen Bedürfnisse der PatientInnen ab, können bessere Resultate erzielt und durch Vermeidung von Behandlungsfehlern auch Kosten eingespart werden. Leider fristet die Gendermedizin bislang noch ein Nischendasein. Hier sind nun Öffentlichkeit, Politik und Wissenschaft gefragt.
Was ist Gendermedizin?
Gendermedizin (auch geschlechtsspezifische Medizin) ist ein Teilgebiet der personalisierten Medizin. Sie betrachtet Krankheiten und Therapien aus der biologischen und soziokulturellen Geschlechterperspektive. Sie fliesst in alle Medizinbereiche ein, auch in die Chirurgie und in die Pharmakologie. Sie berücksichtigt auch psychosoziale Unterschiede wie Ernährung, Sport treiben, Schlafgewohnheiten oder Schmerzempfinden. Leider fristet die Gendermedizin seit vielen Jahren ein Nischendasein. Sie wird in der breiten Öffentlichkeit, in Politik und Wissenschaft sowie bei der Ärzteschaft nicht gebührend wahrgenommen. Die Gründe dafür sind vielfältig: Zum einen ist die Medizin seit Jahrhunderten eine männerdominierte Disziplin und ist – trotz der mittlerweile vielen Medizinerinnen — an wichtigen Schaltstellen männerdominiert geblieben. Ein anderer Grund ist, dass Medikamente immer noch überwiegend an Männern getestet werden.
Mann oder Mäuserich, das Mass aller Dinge
Versuche im Labor nehmen die ForscherInnen auch heute noch vorwiegend an männlichen Tieren vor. Standarddosierungen für Medikamente basieren auf der Norm eines 70 kg schweren jüngeren Mannes. Die Erforschung der Wirkungsweise neuer Medikamente sollte die geschlechtsbedingten Unterschiede von Aufnahme, Verteilung und Wirkung von Medikamenten berücksichtigen.
Auf die öffentlichen Ausschreibungen von Studien zu neuen Medikamenten melden sich Männer viel häufiger als Frauen. Vielleicht sind Männer risikofreudiger? Eine Medikamentenstudie ist nichts ganz Ungefährliches. Aber auch strukturelle Gründe wie Mehrfachbelastung der Frauen könnten eine Rolle spielen. Von vielen StudienleiterInnen werden Männer zudem bevorzugt. Frauen mit Menstruationszyklus vergrössern die Streubreite der Ergebnisse und erhöhen somit die Dauer und Kosten einer Studie. Dabei wären Studienteilnehmerinnen eminent wichtig angesichts der 1,5- bis 2-mal stärkeren Nebenwirkungen, von denen sie bei Standarddosierungen betroffen sind. Frau Gebhard regt an, im Interesse aller Beteiligten, für Probandinnen Unterstützungen, wie zum Beispiel Kinder-Kurzzeitbetreuungen, zu organisieren und allfällige Aufwendungen auszugleichen. So würden sich eventuell vermehrt Frauen melden. Sobald das Wissen nämlich vorhanden sei, sei es auch kein grosser Zusatzaufwand, geschlechtsspezifische Aspekte in die Behandlung einfliessen zu lassen.
Eishockey und Gendermedizin
Eishockey ist in Kanada ein hochemotionaler Nationalsport und jeder Match wird sowohl von Männern als auch von Frauen mit Spannung verfolgt, erzählt Frau Gebhard. 2016, während ihrer Ausbildungszeit an der Université de Montréal, stellte sie verblüfft fest, dass es am Tag nach einem Sieg der «Montreal Canadiens» insbesondere bei jüngeren Männern zu auffällig vielen Herzinfarkten kam. Sie beteiligte sich an der Studie, die dieses Phänomen während vier Jahren anhand von 2199 ProbandInnen erforschte: Das Herzinfarktrisiko bei Männern unter 55 Jahren lag am Tag nach einem Sieg der «Montreal Canadiens» um 40 Prozent höher – bei Frauen dagegen war kein Unterschied zu beobachten. Die Studie sorgte in der Presse für Aufsehen und bescherte der Gendermedizin etwas Aufmerksamkeit.
Auftrieb dank Corona?
«Frauen müssen sich an die eigene Nase fassen», wenn sie schnellere Entwicklungen in individueller frauenspezifischer Behandlung fordern. Denn ohne Einsatz der Frauen gibt es nur langsame und ungenügende Fortschritte in der Gendermedizin.
«Männer müssen also zuerst benachteiligt werden, damit man merkt, dass es Unterschiede in der Behandlung gibt.»
Daniel Roth (19)
Dabei hapert es auch bei der Intensivbehandlung. Frauen in der Schweiz haben erwiesenermassen bei gleichen Diagnosen weniger Chancen auf intensivmedizinische Betreuung als Männer. Die Expertin macht ein Beispiel: Erleidet eine Frau auf offener Strasse einen Herz-Kreislauf-Stillstand erhält sie weniger oft als ein Mann Hilfe durch Passanten. Gründe hierfür sind, dass die Symptome nicht korrekt zugeordnet werden oder – noch schlimmer – Hilfestellung bleibt aus, weil der Vorwurf der sexuellen Belästigung im Raum stehen könnte.
Während der Pandemie häufen sich Berichte über Männer, die schwere Krankheitsverläufe haben und häufiger als Frauen an COVID-19 sterben. Immer öfter berichten Medien, dass Frauen vermehrt an Spätfolgen von COVID-19 leiden. Dies lässt auf geschlechtsspezifische Krankheitsverläufe schliessen. Wie zu erwarten: Unterschiede auch bei Corona!
«Männer müssen also zuerst benachteiligt werden, damit man merkt, dass es Unterschiede in der Behandlung gibt», staunt Daniel Roth (19). «Das haben Sie schön geschlussfolgert», schmunzelt Frau Gebhard.
Was bringen die nächsten Jahre?
Der Schweizerische Bundesrat hat im August 2019 ein Postulat zur besseren Berücksichtigung der geschlechtsspezifischen Medizin für Frauen angenommen. Erste Fortschritte sind seitdem schon zu verzeichnen: Gendermedizin wird künftig ins Curriculum der medizinischen Ausbildung aufgenommen. Ein ganzes Netzwerk Gender Health mit sieben Schweizer Hochschulen und einer Krankenpflegeschule setzt sich dafür ein. Die angehenden ÄrztInnen schliessen somit gut vorbereitet ab. Um die bereits ausgebildeten und praktizierenden Ärztinnen und Ärzte ins Boot zu holen, gibt es seit März 2021 einen Studiengang «Sex- and Gender-specific Medicine». Frau Gebhard hofft, mit dieser Weiterbildung das Wissen um die genderspezifische Problematik bei Ärztinnen wie auch bei Ärzten besser verankern zu können. Das Echo aus Politik und Medien ist sehr gut. Ein Wermutstropfen trübt die Aufbruchstimmung: Die TeilnehmerInnen an diesen Weiterbildungen sind bisher vorwiegend weiblich.