Politpodium zum Nachschauen und Nachhören
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Ein Blindenhund, ein elektronischer Rollstuhl, ein Kommunikationscomputer – in diesem Generationenforum sitzen Gäste mit einer Behinderung. Diese stellt aber keine Barriere für diese Menschen dar, sich in der Öffentlichkeit für Inklusion und ein selbstbestimmtes Leben, trotz Einschränkung(en), einzusetzen.
Überflüssig
Moderiert von Rebekka Flotron (24), erzählten die vier Gäste am Generationenforum vom 23. Juni 2022, welchen Barrieren sie in ihrem Alltag begegnen … und welche sie am meisten nerven. «Die wirklich überflüssigen, die nerven am meisten», sagt Simone Leuenberger. Sie ist mit dem Rollstuhl unterwegs und deshalb auf Behindertenparkplätze angewiesen. Aber: Ein Behindertenparkplatz ist gut und recht; doch stehen links und rechts Bäume, Blumenkübel und Container kann selbst ein eigentlich behindertengerechter Parkplatz zur unüberwindbaren Barriere werden. Wie passiert so etwas? Menschen mit Behinderungen wurden bei der Planung wohl nicht miteinbezogen, da sind sich die Podiumsteilnehmenden einig.
Nach dem Podium teilen sie diese Fehlplanung auf Instagram und fordern auch gleich #NichtÜberUnsOhneUns:
Es ist eindrücklich zu hören, wie eine Veränderung in einem Bereich für die «chronisch normalen» Menschen (wie Nelli Riesen sie nennt) eine Erleichterung und für Menschen mit einer Behinderung eine noch grössere Schwierigkeit darstellen kann. Als Beispiel nennt Matthias Engels die Umstellung auf bargeldloses Bezahlen. Für viele ist es kein Problem, die Kreditkarte zu zücken – je nach Behinderung, und die damit verbundene Beistandschaft, dürfen gewisse Menschen aber gar keine Kreditkarte oder Bankkarte besitzen.
Solche und weitere Schwierigkeiten können und vor allem müssen in Zukunft gemeistert werden. Anja Reichenbach bringt es auf den Punkt: «Wir müssen lernen, inklusiver zu denken.» Es reicht nicht, wenn wir bei jeder Herausforderung eine individuelle Lösung suchten; die Basis müsse sich verändern, damit der Alltag grundsätzlich einfacher werden könne. Dafür setzt sich der Verein Sensability, bei dem Anja Reichenbach tätig ist, auch ein. Sie organisieren sogenannte Rollenspiele, bei denen eben die «chronisch Normalen» erfahren können, wie es ist mit einer Behinderung zu leben. So werden Hindernisse – eben Barrieren – in den Köpfen und in der Umwelt abgebaut.
«Überflüssige Barrieren» lassen sich nur schwer beseitigen, weil Menschen ohne Behinderung sie häufig immer noch ignorieren. Diese Ignoranz akzeptiert Anja Reichenbach aber nicht mehr länger. Es gebe genug Organisationen, AktivistInnen und PolitikerInnen, die bereit seien, aufzuklären und ihre Expertise zu teilen.
Dem stimmt auch Nelli Riesen zu. Sie arbeitet als Färberin bei Alchemilla in Oberhofen, die sie in den 80er-Jahren mitbegründete, und lebt in einer Thuner Wohngemeinschaft mit anderen Menschen mit Behinderungen. Sie kommuniziert mit Hilfe eines Computers und mit der Unterstützung von Thimm, ihrem langjährigen Assistenten. Sie schreibt: «Ich möchte meinen Beitrag einbringen dürfen.» Und in manchen Kontexten kann sie das; so leitete sie zum Beispiel am vergangenen Wochenende eine Arbeitsgruppe am Inklusiven Europäischen Kongress in Zürich.
In vielen Bereichen hapert es aber noch mit der Inklusion. Obwohl, wie Simone Leuenberger später erklärt, sie doch die Expertin wäre, anderen zu zeigen, welche Barrieren in einer solchen Lebenswelt – z. B. einer autistischen Person – existieren und wie sie abgebaut werden können.
Doch im Allgemeinen gilt wohl: Expertisen von Menschen mit Behinderungen werden viel zu wenig in Anspruch genommen. Da sind sich die Podiumsteilnehmenden einig.
#NichtÜberUnsOhneUns
Das gilt auch für die Politik: Eigentlich können WählerInnen in der Schweiz über unterschiedliche politische Instrumente vieles mitbestimmen. Doch nicht alle Menschen sind wahl- und stimmberechtigt, aus den verschiedensten Gründen. Unter anderem wegen einer Behinderung. Das weiss zum Beispiel Nelli Riesen. Sie musste lange für ihr Stimmrecht auf nationaler und kantonaler Ebene kämpfen (in Thun kann sie weiterhin nicht abstimmen).
Somit können diese Menschen ihre Meinung nicht mitteilen, ihre Bedürfnisse werden nicht erkannt. Das kann dazu führen, dass die Gesellschaft der «Gesunden» diese Problematik gar nicht mitbekommt, was das Abbauen der unterschiedlichen immer noch existierenden Barrieren stark erschwert.
Anja Reichenbacher betont deshalb: «Wir müssen gemeinsam für Gleichstellung einstehen.» Ein wichtiges Statement, welches in unserer Schweizer Politik noch nicht vollständig angekommen ist. Trotzdem loben Simone Leuenberger und Matthias Engels ihre Parteien – EVP und FDP – und deren Umgang mit Menschen mit einer Behinderung.
Und jetzt das Publikum
Gegen Ende der spannenden und auch zum Nachdenken anregenden Unterhaltung schaltet sich das Publikum in die Diskussion ein. Eine Zuhörerin lobt den Verein Sensability. Dieser setzt sich dafür ein, dass Menschen erleben können, wie es ist mit einer bestimmten Behinderung leben zu müssen. Beispielsweise setzt du dich in einen Rollstuhl und versuchst eine Bordsteinkante zu überwinden oder du erlebst mit einer Dunkelbrille, wie es ist, wenn das Augenlicht nachlässt oder du ganz erblindest. Anja Reichenbacher, welche im Vereinsvorstand tätig ist, bestätigt, dass sich Verständnis und Einfühlungsvermögen grundlegend verbessern können, wenn wir als nicht behinderte Personen eine Einschränkung am eigenen Körper erleben können.
Besonders eindrücklich war die Frage einer anderen Zuhörerin: «Liegt es in unserer Schweizer Mentalität, dass wir Menschen mit einer Behinderung skeptisch, distanziert oder sogar diskriminierend begegnen?»
Wahrscheinlich könnten wir darüber länger diskutieren. Klar ist, dass sich noch viel verändern muss und dass wir alle etwas zur Verbesserung beitragen können! Nelli Riesen brachte es mit folgenden Worten auf den Punkt: «Wir sind entwicklungsbedürftig.»
Die Gäste waren:
- Simone Leuenberger (47) ist Lehrerin für Wirtschaft und Recht und EVP-Grossrätin. Sie lebt mit einer Behinderung und engagiert sich für Inklusion in allen Lebensbereichen.
- Matthias Engel (43) ist Mediensprecher beim Schweizerischen Baumeisterverband. Er ist durch seine Sechsfingrigkeit entschleunigt. Er engagiert sich als Vorstandsmitglied bei «Tatkraft».
- Anja Reichenbach (33) arbeitet für Sensability – Expertise für Inklusion und für die Behindertenkonferenz Kanton Zürich. Die Bernerin engagiert sich zudem als Stiftungsratsmitglied bei der Stiftung «Denk an mich» und als Vorstandsmitglied bei der kantonalen Behindertenkonferenz, Bern.
- Nelli Riesen (55) ist Färberin und Mitbegründerin der Alchemilla. Sie kann nicht sprechen, aber mit gestützter Kommunikation schreiben. Sie setzt sich seit Jahren für Teilhabe und Mitbestimmung ein, hält Referate und Vorträge.
Moderation: Rebekka Flotron (27)