Ich bin alt und es gibt nicht mehr vieles, das ich zusätzlich in mein Leben packen könnte, möchte oder sollte.
Dankbar, dass ich ohne Mühe und Pusten hier zu diesem Aussichtspunkt hoch über dem Thunersee hinaufsteigen konnte, setze ich mich auf die Bank an der Sonne. Ein junges Paar wandert vorbei, grüsst fröhlich und geht leichtfüssig weiter. Selbstvertrauen und Lachen im Gesicht. Und Liebe, sicher Liebe!
Ich blicke träge über den Nebelschleier auf See und Hügel und geniesse die himmlische Ruhe. Einen Fragebogen aus einem Kurs habe ich mitgebracht. Frage vier: «Gibt es Schönes, das sie noch schaffen möchten?» Seufzend denke ich nach, warum ich diesen Kurs denn überhaupt besuche. Energie aufzubringen, sei es körperliche oder geistige, wird jetzt oft so anstrengend! Manchmal denke ich, dass es ohnehin zu spät ist für Wünsche und Träume. Vielleicht sollte ich sie einfach über Bord werfen? Aber da ist noch immer die Überzeugung, dass Energie nicht wirklich verloren geht – sondern sich nur verändern kann.
Da war doch Hanna. Sie war nicht mehr fähig, sich zu Fuss allzu weit vom Altersheim zu entfernen. Bis ins hohe Alter töpferte sie dennoch mit schmerzenden Händen Tauben, Töpfe und Schüsseln – und, als das nicht mehr ging, diese wunderschönen, verzierten Kugeln, die jetzt zuhause in meiner Schale liegen. Es hiess, Hanna sei nicht mehr ganz richtig im Kopf – aber da war doch dieser unermüdliche Drang, Schönes zu schaffen, zu gestalten – sich auszudrücken!
Die Sonne macht mich schläfrig – ich lehne mich zurück – eine leise Stimme fragt: «Gibt es etwas – fehlt etwas in deinem Leben, das es hätte geben sollen oder geben können?» Ich antworte: «Ich glaube, ich habe viele Energien falsch genutzt oder nicht erkannt, vielleicht sogar zerstört.» Meine Worte scheinen wie Steine in eine Schale zu fallen, schwer und gewichtig. «Ich habe doch Kinder erzogen, gearbeitet, gelebt ist das nicht genug?» Und spüre die Antwort: «Du hast dir zu wenig zugetraut, zu wenig Mühe gegeben, zu wenig.»
Ein Traum? Nur Gedanken? Deshalb stieg ich doch hier hinauf, um über Fragen des Lebens nachzudenken. Ich bin nicht traurig. Für Reue und Vorwürfe darf ich meine Energie nicht verschwenden. Da spüre ich plötzlich, wie sich im Alter meine Energie verlagert hat. Ich muss nicht mehr – ich darf! Das macht doch frei! Ich kann manches nicht mehr – aber bedaure ich das wirklich? Da ist doch noch so viel anderes. Da ist diese Kraft in mir, die mich weitersuchen, weiterträumen lässt – bis hierher über die Nebeldecke und noch höher.
Ich möchte dieses Paar von vorhin zurück rufen, mit den Beiden ein Stück des Weges gehen, tanzen und fühlen. Ich sehe sie noch in der Ferne. Hier, bei mir, bleibt etwas wie sanfte Wärme zurück, wie Lachen und zärtliche Erinnerung.