Nein, Bhutan ist kein Flüssiggas. Das wäre Propan. Auch kein indischer Gott. Du meinst wahrscheinlich Brahman, der gelegentlich im Kreuzworträtsel auftaucht. Nein, Bhutan ist ein Land im Himalaya-Gebirge, etwa so gross wie die Schweiz, auf durchschnittlich 2200 Metern über Meer gelegen, zu 70 Prozent mit Wald bedeckt. Das Volk lebt in traditionellen, farbigen Kleidern. Schöne Klöster kleben an den Berghängen. Nun, das wäre ja nicht so spektakulär. Doch das Land hat eine Besonderheit, die uns interessiert: Es hat sich dem Glück verschrieben. Doch davon später mehr.
Erst seit 1974 ist das Land für den Tourismus erschlossen. Die Menschen in Bhutan leben in ihren alten Traditionen und ihrer buddhistischen Religion, denen sie sehr verbunden sind. Sie fürchten deshalb wohl zu Recht, dass der Tourismus etwas zerstören könnte. Heute gibt es keine Zugangsbeschränkung, aber die Anreise ist kompliziert. Das Land darf nur in Begleitung von ReiseführerInnen bereist werden. Meist kommen Leute, die in den Bergen wandern wollen oder sich für alte Kulturen interessieren. So ist kein Massentourismus entstanden.
Ein eigenständiger Weg
Bhutan war schon immer ein sehr isoliertes Land. Vermutlich ist es Bhutan auch deswegen gelungen, seine buddhistische Tradition zu wahren. Wirtschaftlich ist es von Indien abhängig. Seit Indiens Unabhängigkeit (1947) besteht zwischen den beiden Ländern ein Abkommen und die bilateralen Verträge wurden ausgeweitet, nachdem das buddhistische Tibet 1951 von China annektiert wurde. Aus Angst vor chinesischem Eingreifen schloss Bhutan seine nördliche Grenze und begann, das Land zu modernisieren.
Mit Hilfe Indiens schlug Bhutan einen ganz eigenen Entwicklungsweg ein – eine Gratwanderung zwischen Modernisierung und Erhaltung der Spiritualität und der Traditionen. Leider nicht zum Vorteil aller EinwohnerInnen: 1985 wurde ein Staatsbürgerschaftsgesetz eingeführt, wonach alle EinwohnerInnen beweisen mussten, dass sie seit 1958 ständig in Bhutan lebten. Andernfalls galten sie als illegale EinwanderInnen. Dies brachte viele nepalesische Hindus in Bedrängnis. 1990 kam es zu Demonstrationen, auf die der Staat mit grosser Repression reagierte, weswegen viele Menschen nach Nepal flüchten mussten.
Vor 20 Jahren führte Bhutan als eines der weltweit letzten Länder Fernsehen und Internet ein. Das staatliche Fernsehen ist jedoch nicht zur Neutralität verpflichtet und die privaten Medien erhalten zu wenig staatliche Unterstützung. Bei problematischen Themen zensieren sich die Medien selbst. Zu kritische Beiträge sind nicht erlaubt. Die Berichterstattung bei den Wahlen 2018 wurde von «Reporter ohne Grenzen» jedoch als ausgeglichen beschrieben. Trotzdem: Die Meinungs- und Pressefreiheit kann – obwohl in der Verfassung verankert – nicht ausgelebt werden
Bhutan wird zurzeit von einem jungen Königspaar regiert. Schon die Eltern des jetzigen Königs wachten achtsam über die kulturellen und religiösen Werte des Landes. Die frühere Königin reiste einmal inkognito durch das Land, um die Bedürfnisse der Leute kennenzulernen. Der jetzige König, Jigme Khesar Namgyel Wangchuck, führt die Tradition seiner Eltern weiter. 2011 heiratete er in einer blumenreichen Prachthochzeit seine Frau Jetsun Pema, die unter anderem in London internationale Beziehungen studiert hatte, und die sich aktiv im Land engagiert.
Bald nach seiner Krönung im Jahr 2006 begann der junge König, die politischen Strukturen des Landes zu demokratisieren. Bereits 1953 hatte sein Vater, der damalige König, einen Nationalrat mit 130 Mitgliedern eingeführt. Jigme verfolgte den Prozess weiter und führte eine konstitutionelle Monarchie ein. Die neue Verfassung geht so weit, dass die Nationalversammlung den König sogar absetzen könnte.
Gerechtigkeit und intakte Umwelt
Das Gemeinwohl soll bei Staatsentscheidungen im Mittelpunkt stehen. Gerechtigkeit ist ein zentraler Wert. In Bhutan ist es wichtig, dass es allen gut geht. Im Buddhismus ist die Genügsamkeit sehr zentral und die Frage danach, wieviel genug ist. Das ist anders als in den westlichen Ländern, in denen doch gar nie etwas genug sein kann.
Bhutan ist ein Vorbild an Umweltfreundlichkeit. Umweltschutz steht in der Verfassung, die Wirtschaft ist ihm ausdrücklich untergeordnet. Ackerbau wird biologisch betrieben. In den Bergen hausen Tiger, Leoparden, Bären und viele andere Wildtiere. Bhutan ist als einziges Land klimaneutral. Dies gelingt mit der Stromproduktion aus Wasserkraftwerken und mit grossen Waldflächen, die sie als solche belassen und nicht bewirtschaftet werden. Die Natur und insbesondere die Berge gelten als heilig und schützenswert, damit auch die Nachwelt noch davon profitieren kann.
Die Perspektive, mit der das Land regiert wird, ist bemerkenswert. Grösstenteils auf erneuerbare Energien zu setzen, zeugt für uns von Weitsichtigkeit und ist vielleicht auch ein Zeichen dafür, dass das regierende Königspaar noch sehr jung ist. Auch sie werden in Zukunft von den Folgen des Klimawandels stärker betroffen sein.
Wenn die Regierung kein Glück für ihr Volk schaffen kann, dann gibt es keinen Grund für die Existenz der Regierung
Gesetzestext aus dem Jahr 1629
Nun aber zum anfangs angekündigten Thema «Glück». Das Thema beschäftigte das Land schon seit langem. Ein Gesetzestext aus dem Jahr 1629 lautet: «Wenn die Regierung kein Glück für ihr Volk schaffen kann, dann gibt es keinen Grund für die Existenz der Regierung». Und dem ist das Land treu geblieben. 1979 fragte ein Journalist den damaligen König, wie hoch das Bruttoinlandprodukt von Bhutan sei. Der König antwortete, in Bhutan sei das Bruttoinlandglück wichtiger als das Bruttoinlandprodukt. Das war ein spontanes Wortspiel. Doch seither macht das Wort «Bruttoinlandglück» Karriere.
Das Glück als zentraler Wert
Und es wird umgesetzt. Es war von Anfang an klar, dass es um ein Zusammenspiel von materiellen, kulturellen und spirituellen Werten gehen musste. Im Jahr 2008 fand in Bhutan eine erste grosse Befragung statt. Mit einem Fragebogen mit 750 Fragen gingen Beamte von Tür zu Tür, um diesen mit den BewohnerInnen auszufüllen und so den Stand des Bruttoinlandglücks zu messen. Aufgrund der Erfahrungen wurde der Fragebogen laufend verbessert. Die neueste Version von 2014 umfasst neun Punkte: Lebenszufriedenheit, Gesundheit, Arbeit und Schlaf, Bildung, kulturelle Vielfalt, Regierungsführung, Gemeinschaft, Ökologie und als Letztes den materiellen Lebensstandard.
Da gäbe es allerhand nachzudenken. Das Bruttoinlandprodukt, das wir jährlich messen, bildet überhaupt nicht ab, was wir unter Glück verstehen. Und das Glück – wir wollen es doch alle. Warum messen wir denn oft nur den materiellen Konsum? Haben wir uns so sehr an diesen Massstab gewöhnt, dass uns seine Einseitigkeit gar nicht mehr auffällt? Kennen wir keine anderen Kriterien für echte Lebensqualität?
Es wäre eine schöne Sonntagsbeschäftigung aufzuschreiben, was für uns alles zum Begriff Glück gehört: Sonne, Berge, Badewanne, Liebe, Arbeit, Schmetterling, Bratwurst, Blumen, hüpfende Kinder. Und auch wenn wir davor zurückschrecken, das Bruttoinlandglück in die Verfassung zu schreiben, weil es uns doch unerreichbar scheint, könnten wir es ja mit Lebensqualität versuchen. Eine Initiative lancieren mit dem Ziel, die Lebensqualität umfassender zu beschreiben und geistvoller zu messen als mit der Produktion materieller Güter. Los geht’s!