
Eine grosse, schlanke Frau winkt lächelnd durch die Glasscheibe im Korridor, als sie ihre Besucherinnen entdeckt. Etwas kritisch mustert sie hingegen den UND-Fotografen Demian Thurian. «Ds Pflaschter müesst dr de nid uf ds Foto näh», erklärt sie mit einem Anflug von Ironie und deutet auf ein kleines braunes Pflaster auf ihrem Arm.
Thun kennt sie schon lange
Aufgewachsen ist Margrit Meyes an der Scheibenstrasse – der Partymeile von Thun, wie sie augenzwinkernd anfügt. Sie konnte nie einen Beruf erlernen, da ihr Vater kurz nach ihrer Konfirmation verstarb. Im Wissen darum, dass ihre Mutter nach dem Tod des Vaters auf die Mithilfe der Kinder und deren finanziellen Beitrag angewiesen war, erkundigte sich die Tochter in einem Thuner Lebensmittelgeschäft nach Arbeit. «Heute würde man so ein Geschäft Tante Emma-Laden nennen», fügt sie an – «so einer, wo sich alle kennen». Der damalige monatliche Lohn hätte 20 Franken betragen, wenn sie dort eine Lehre absolviert hätte. Das Arbeiten im Laden ohne gleichzeitige Ausbildung brachte pro Monat hingegen 40 Franken ein. Unter diesen Umständen entschied sich Margrit Meyes für die zweite Variante. Die Zeit, in der sie an der Scheibenstrasse lebte, verbindet sie mit einem schönen Gefühl. Es komme immer wieder vor, dass sie sich an jenen Ort begebe, wo ihr Elternhaus stand, und dieser Zeit nachspüre. Heute steht dort ein grosser Wohnblock.
Die beste Lösung
«Frau Meyes, wie alt sind Sie jetzt?» – «Im vierundneunzigsten Lebensjahr». Ein Anflug von Stolz huscht über ihr Gesicht. Zu recht: Es gebe hier im Pflegeheim Leute, die seien 10 Jahre jünger als sie, aber nicht besser in Form. Zudem hätten viele ihren Lebenswillen verloren. Warum ist die für ihr Alter so lebhafte Frau Meyes im Pflegeheim? «Mein Mann wurde dement. Ich bin oft zusammengebrochen und konnte ihn nicht alleine pflegen.» Daher entschied sich das Ehepaar für einen Ferienaufenthalt im Pflegeheim Berntor in Thun, anschliessend für den definitiven Heimübertritt. Das war vor elf Jahren. Zuvor hatten die beiden auch in Betracht gezogen, sich von Zuhause aus durch die Spitex betreuen zu lassen.
Aber Margrit Meyes habe über die Spitexbetreuung auch negative Dinge gehört und dies daher nicht als die beste Lösung erachtet. Sie schüttelt den Kopf. Der Weg ins Pflegeheim erschien dem Ehepaar als der sicherste. Beide durften sich im Heim wieder «pchiimen» und noch einige schöne gemeinsame Jahre erleben. Sie seien viel unterwegs gewesen mit ihren Generalabonnements, erzählt die 93-Jährige. Den Schritt «ins Heim» habe sie bis heute nie bereut. Sie lächelt bei der Erinnerung an die Reisen mit ihrem Mann.

Alter schützt vor Tablet nicht
«Frau Meyes, finden Sie auch, dass die Jungen zu viel an ihren Handys hängen?» Die 93-jährige bejaht: «Das isch nüt Guets». Die Jungen seien ständig mit ihren Handys beschäftigt – sie macht eine Handbewegung zum Ohr. Ihrer Meinung nach sei das Handy vor allem da für Notfälle, um Hilfe zu rufen. «Oder um kurz mitzuteilen: Du, ich komme dann und dann heim,» erklärt Frau Meyes. Doch es sei sicher nicht zum ständigen Schwatzen da. Fast ein bisschen verschämt nachgeschoben kommt das erstaunliche Geständnis: «Jä i ha ja säuber o eis.» Es sei aber ein sehr altes Handy, eine wahre Antiquität. Mit 80 habe sie sich überlegt, dass so ein Ding beim Wandern hilfreich sein könne – und wünschte es sich zum runden Geburtstag. Für nichts in der Welt würde Frau Meyes heute ihr Handy wieder hergeben.
Sie schätzt inzwischen das SMS-Schreiben mit ihren Verwandten. Doch nicht nur das Mobiltelefon hat es ihr angetan: Sie besitzt auch ein weisses Tablet. Gerade habe sie damit zu mailen begonnen. Zudem spiele sie «wie vergiftet» das Jass-Spiel oder ein Früchtememory. Bei letzterem gehe es ihr aber manchmal zu schnell. Auch habe sie so ein Spiel, bei dem man möglichst viele Treppenstufen erklimmen muss, und dies innert 30 Sekunden. Ihre zeitweise Spielsucht kommentiert die 93-jährige mit: «Wahnsinnig auso!»
Musik für «die da oben»
2008 habe sie mit dem «Klimpern» begonnen, erklärt sie. In jungen Jahren habe sie es mal mit Blockflöte und Handorgel versucht. Etwa vor 4 Jahren entdeckte sie ein Klavier im Keller des Pflegeheims und dachte sich, doch mal ein bisschen darauf spielen zu können. Eine Bekannte habe ihr einmal ein paar Klavierstunden gegeben, damit sie etwas über die Handstellung lernen konnte. Seit der Entdeckung des Klaviers musiziere sie nun jeden Abend. Ob sie etwas vorspielen solle, fragt sie. «Aber nume zum Spass, i grinse ja säuber.» Frau Meyes setzt sich dafür jedoch nicht etwa vors Klavier – sie greift nach ihrem Tablet. Erst braucht sie eine Weile, um dann aber mit entschiedenem Fingertapsen ein Video zu öffnen. Die Darbietung der Aufnahme beginnt: Die 93-jährige klimpert einstimmig mit festen Fingern die Melodie «An den Ufern des Mexiko Rivers».
Auch singe sie ihrem verstorbenen Mann jeden Abend ein Lied vor. «Glauben Sie an ein Leben nach dem Tod, Frau Meyes?» Lange schweigt sie – nachdenklich den Blick gesenkt. Ja, sie glaube, dass «die da oben» auf sie herunterschauen. «Man weiss es ja nicht, aber man muss einfach Vertrauen haben,» erklärt uns die alte Frau. Sie fügt entschieden an: «Aber nid frömmele!»
Immer was zu tun
«Wie sieht Ihr Tagesablauf aus?» Manchmal stehe sie bereits um sechs Uhr auf, manchmal warte sie im Bett auf die Pflegerinnen. Um acht Uhr sei sie immer beim Frühstück anzutreffen. Mittags gebe es nicht immer ein Nickerchen. Am Nachmittag würden in den Räumlichkeiten des Pflegeheimes verschiedene Aktivitäten angeboten wie Stricken oder Basteln. Margrit Meyes findet das gut, sie nutze diese Angebote. Dann gebe es da noch die zwei Wellensittiche auf ihrer Etage, die sie täglich besuche. Ob für sie der Tag schnell vorbeigehe? Ja, sie könne sich gut «vertörlen», habe nie Langeweile. Natürlich gebe es Tage, an denen sie um halb vier auf die Uhr schaue und das Gefühl habe, es müsste eigentlich doch schon fünf sein. Doch dieses Phänomen sei für sie nicht Langeweile. Und abends – wieder huscht ein verschmitztes Lächeln über ihr Gesicht – da schnappe sie sich ihr Tablet.
18 Grad müssen es schon sein
«Frau Meyes, stimmt es, dass Sie immer noch gerne in der Aare baden?» Die Augen von Margrit Meyes leuchten. Es gebe für sie nichts Schöneres, als sich von einem fliessenden Gewässer umschmeicheln zu lassen. «Das massiert so schön.» Von 1928 an sei sie ins Schwäbisbad gegangen, da sei man sich halt das kalte Wasser gewöhnt. Ab 17 Grad habe sie sich früher ins Wasser gewagt, heute gilt: «18 Grad muess es scho si». Verlassen tut sie sich auf ihr Gefühl, sie lasse sich auf dieses Abenteuer nur ein, wenn sie sich gut fühle. Das «Gschpüri» dafür, was man sich zutrauen könne, müsse man lernen. Wenn denn doch mal etwas passieren würde, sei im Schwäbisbad immer jemand da, der auf sie acht gebe.
Spielnamis sind ihr zu langweilig
Die Kontakte mit Gleichaltrigen fehlen ihr im Pflegeheim. Sie findet es beispielsweise mühsam, ihren Altersgenossen alles zwei Mal sagen zu müssen, die hätten halt alle Hörgeräte. Eigentlich habe sie ausserhalb des Pflegeteams nur zwei Kontaktpersonen im Altersheim, mit denen sie ab und zu sprechen könne.
Für Frau Meyes ist es ein Problem, dass sich die Leute in ihrem Umfeld zu wenig fürs Leben interessieren. «Einer meiner Kumpanen im Pflegeheim sieht zwar noch gut aus und ist gepflegt, hat jedoch keinen Lebenswillen mehr. Sie hingegen gehe immer «ga schpanifle », ob sie das Thuner Tagblatt erwische. Ob sie denn etwas ändern würde an ihrem Wohnort, wenn sie könnte? Nein, sie wüsste nicht wie. Sie jasse mit ihren Kollegen oder auch mal mit dem Betreuungspersonal. Spielnamis mit allen Heimbewohnern gibt’s auch ab und zu. Ihr seien diese aber zu langweilig. Mit jungen Leuten mache das Spielen hingegen Spass. Manchmal komme eine Schulklasse, die mit den alten Leuten Zeit verbringe. Das sei dann auch ein gutes Gedächtnistraining.
GrenzenLos – auch ohne Zaubertrank
«Frau Meyes, wenn es einen Zaubertrank gäbe, der Sie wieder jung machen könnte, würden Sie einen Schluck nehmen?» Ihr entschiedenes «Nein» kommt ohne dass sie lange nachdenken muss. Die heutige Zeit sei ihr zu hektisch, «allpott» komme wieder so etwas Neues heraus – sie zeigt auf ihr Tablet – alles gehe viel zu schnell. Früher sei das Leben schon geruhsamer gewesen.
Es gab keinen Fernseher, kein Radio – «es war gemütlicher». Auf die Frage, ob sie in ihrem Alltag oft an Grenzen stosse, überlegt Margrit Meyes sehr lange. Eigentlich habe sie gar keine Grenzen, ist ihr erster Gedanke. Nach langem Zögern kommt dann doch: Wenn sie am Strassenrand stehe und die Unsicherheit, wie sie heil über die Strasse komme, sie befalle, da stosse sie an eine Grenze. Oder auch im Gebrauch ihres Tablets. Wenn ihr die Jungen – sie meint damit ihre Söhne – noch dies oder das zeigen wollen, was mit dem «Ding» möglich wäre, sage sie oft: «Nein, das will ich jetzt nicht mehr lernen».
