In gut 25 Jahren als Spitalseelsorger von Thun ist mir das Thema «HelferInnen als Barrieren» fast auf Schritt und Tritt begegnet. Dabei haben sich zwei Dinge immer wieder gezeigt:
(1) Der Satz «Ich helfe dir» und noch mehr der oft gehörte Satz «Ich mache mir Sorgen um dich» hat eine Kehrseite, die niemand wahrhaben will und die auch verdrängt oder einfach nicht angesprochen wird. Die Kehrseite dieser einen Medaille lautet: «Ich will die Kontrolle über dein Leben.» Das hat zu Recht einen Beigeschmack, der das Leben von Menschen, die auf Hilfe angewiesen sind, sehr, sehr schwer machen kann. Es gibt eben Menschen, die in dieser Kontrolle, getarnt als Hilfe, den einzigen Sinn im Leben sehen. Das kann anderen das Leben buchstäblich zur Hölle machen.
(2) Gerade bei Hilfsangeboten innerhalb von Familien ist die versteckte Botschaft oft: «Es darf sich hier nichts ändern, es muss alles ganz normal weitergehen!» – ganz so, als ob es die hilfsbedürftige Person nicht gäbe. Auch das kann der Hintergrund von Konflikten und Machtspielchen zum Nachteil der hilfsbedürftigen Person sein, denn so wird sie in ein Korsett gezwängt, das ihr nicht entspricht oder im schlimmsten Fall die Luft zum Atmen abschneidet. Wer das so arrangieren will, hat oft die unbewusste Angst, er/sie könnte selber in diese Hilfsbedürftigkeit geraten.
Eine Betroffene erzählt
E. H. ist 82-jährig, verwitwet, und wohnt in einer Thuner Alterseinrichtung. Sie ist Rollstuhlfahrerin, an beiden Beinen gelähmt. Ich kenne sie seit langem von meiner Tätigkeit im Spital her.
Du hast Erlebnisse gehabt mit (Mit-)Menschen, die sich als deine Helfer sahen, aber dann eher zu Barrieren wurden. Kannst du etwas davon erzählen?
E. H.: Vor allem ein Erlebnis hat mich stark geprägt, und das war familiär. Als ich mit meinem Mann in mein Heimatdorf zog, wollte meine jüngere Schwester die ganze «Hilfe» für mich in die Finger nehmen, obschon ich die vorher immer selber organisiert hatte. Als ich sagte, dass ich bereits eine Haushaltshilfe angestellt hätte, gab das einen schweren Konflikt. Ich blieb hart, und das löste in meiner Familie einen Sturm aus; bis heute ist das zwischen meiner Schwester und mir eine Barriere geblieben; ich habe ihre Aussicht auf eine Rolle als Helferin durchkreuzt.
Und was hat der ganze Vorfall mit dir gemacht?
Ich wurde sehr vorsichtig immer dann, wenn solche Angebote kamen. Mein Umfeld hat sich tatsächlich daran gewöhnt, dass die Initiative von mir ausging, wenn ich etwas brauchte; dann habe ich das klar gesagt. Wenn trotzdem jemand von sich aus etwas tun wollte, konnten wir das dann immer gut regeln.
Ausserhalb deiner Familie: Wie hast du konkret reagiert, wenn so etwas passierte?
Etwas Lustiges: Als ich bei der IV zu arbeiten anfing – bevor ich an meinem Arbeitsplatz überhaupt jemanden antraf – kamen mein zukünftiger Chef und auch der Sous-chef, stellten sich vor und wollten mir beide mein Täschchen tragen! Das löste bei mir eine Art inneren Lachkrampf aus (lacht). Es wurde aber eine sehr angenehme Zeit an dieser Stelle, und das Verhältnis mit den beiden blieb sehr gut.
Abgesehen davon: Hattest du in entsprechenden Situationen manchmal den Impuls «Was soll ich jetzt da etwas sagen – lassen wir’s doch einfach sein, fort und fertig!»?
Ganz sicher! In der Bäckerei, in der ich mein Brot kaufte, hatte ich Mühe, wenn ich zwei Brote kaufte, weil ich damals noch an zwei Stöcken ging. Das sahen natürlich die Leute darum herum und waren ganz automatisch der Meinung: der Frau Sowieso muss man die Tasche abnehmen! Dann musste ich mich erklären – immer wieder. Aber bei anderen liess ich es sein und bedankte mich einfach. Denn wenn ich keine Unterstützung wollte, war immer wieder mal die Reaktion: «Die wollen gar nicht, dass man ihnen hilft!» Das brachte mich dann manchmal dazu, einfach nichts zu sagen.
Wurde es für dich im Laufe der Jahre leichter, das Thema «Hilfe annehmen respektive ablehnen» anzusprechen?
Da halfen mir einfach meine Erfahrungen! Vielleicht sage ich es jetzt weniger oft. Kürzlich vergass mich die SBB beim Aussteigen aus dem Zugswagon. Zwei junge, kräftige Männer wollten das spontan übernehmen. Ich wusste: mein Rollstuhl allein wiegt 145 kg, und das ist gefährlich. Da musste ich bestimmt sagen: Entschuldigung, das geht gar nicht! Das ist gut gemeint, geht aber nicht. Sie verstanden das.
In der Institution, in der du jetzt lebst: Wenn du da Mitarbeitende erlebtest und erlebst, kam es so weit, dass du Vorgesetzte darauf angesprochen hast?
Es gibt da Sachen und Sächelchen, die ich gerne ansprechen würde, aber ich habe den Eindruck, es sei noch zu früh nach zwei Monaten. Ich beschränke mich in der konkreten Situation aufs Erklären oder Vorschläge machen, vor allem bei Lernenden.
Kannst du anderen aus deiner Erfahrung einen Rat mitgeben?
Hier sind ja viele in einer ähnlichen Situation wie ich – die haben das auch schon längst begriffen!
Und zum Schluss: Wie hat ein weiser Mann einmal gesagt:
«Das Gegenteil von gut ist – ‹gut gemeint›»!
Kurt Tucholsky